Kapitel 16

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Milan


Der Duft von rauchigem Fleisch mit einer scharf-würzigen Note lag in der Luft. So langsam verspürte ich Hunger und das nicht nur auf das Essen, das auf dem Street Food Festival angeboten wurde.
Ayla lief, eingehüllt in den dunklen Mantel von unserem ersten Treffen im Velvet, neben mir her. Wirklich ein Jammer, dass es so kalt war. Wobei ich bereits sehr genau erkunden durfte, was sich unter den Lagen von Stoff befand. Und das Geheimnis, ob sie einen BH trug, lockte mich auch dieses Mal – deutlich mehr jedenfalls als die vielfältigen, köstlich duftenden Speisen, die in den weißen, aneinander gereihten Zeltständen angepriesen wurden.
Kurz hatte ich überlegt unser Treffen abzusagen. Doch wenn ich schon die Füße in puncto Folter und Mord stillhielt, konnte ich dies genauso gut mit Ayla tun. Ihr Wesen und vor allem ihr Körper ließen mich fast den Durst nach Schmerz und Leid vergessen. Allerdings nur fast.
"Worauf hast du Appetit?", hakte Ayla nach.
"Der Stand da vorne sieht gut aus." Ich deutete ein Stück weiter zu einem Zelt, dessen Rauch die halbe Gasse füllte. "Es seid denn, du bist Vegetarierin."
Sie schüttelte den Kopf, sodass ihr seidiges braunes Haar in den letzten Sonnenstrahlen schimmerte. "Nicht mehr."
"Was hat dich zum Aufhören bewegt?"
Ayla kniff die Augen zusammen. "Die meisten wollen eher wissen, was mich zum Anfangen bewegt hat." Als ich nichts sagte, grübelte sie einen Augenblick. "Tatsächlich war es ein schwacher Moment. Ich hatte ein paar Monate durchgehalten, aber dann waren Fee und ich unterwegs. Und sind tatsächlich mitten in der Nacht in einem Grillimbiss gelandet. Das war dann das Ende meiner Karriere als Vegetarierin." Beschämt schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen.
Ich zog sie am Handgelenk runter. "Kein Grund für einen Zusammenbruch."
Ayla lachte. "Damals dachte ich das schon."
"Warum hast du wirklich aufgehört?"
"Ich sagte doch ..."
"Ja, ein schwacher Moment. Den haben wir alle mal." In meinem Fall war es eine stete Aneinanderreihung schwacher Momente, in denen ich meinen sadistischen Trieben nachging. Kontrolle verlieren, um Kontrolle zu genießen.
"Aber das heißt ja nicht, dass man direkt das Handtuch werfen muss." Aus den Augenwinkeln musterte ich, wie sie ihre Stirn runzelte, während wir uns am Stand anstellten. "Hinfallen, aufstehen, weitergehen."
Ayla kniff ihre Lippen zusammen, die von der Kälte gerötet waren. Ähnlich wie es bei unserem Rumgemache in der Praxis der Fall war. Es drängte mich sie mit meinen zu berühren, an ihnen zu saugen ... Mein Glied begann allein bei dem Gedanken zu pochen.
"Das Problem war, dass es mir so gut geschmeckt hat. Und ja, es war wohl mehr als ein schwacher Moment." Ein leidvoller Blick erfüllte ihre Edelsteinaugen. "Ich weiß, ich bin ein schlechter Mensch. Das Tierwohl sollte mir wichtiger sein."
Am liebsten hätte ich laut aufgelacht. Wenn hier einer ein schlechter Mensch war, dann ich.
"Schlecht ...", wiederholte ich das Wort. "Ich würde jetzt nicht sagen, dass dich diese eine Sache zu einem schlechten Menschen macht."
"Wenn es nur die eine wäre ...", nuschelte Ayla.
Interessiert blickte ich zu ihr hinab. "Hast du öfters schwache Momente?"
Ihre Wangen röteten sich, eine perfekte Komplementierung ihrer Lippen. "Naja, vor ein paar Tagen in der Praxis war auch kein starker Moment, oder?"
Jetzt konnte ich ein Grinsen nicht mehr verbergen. "Weil du dich in einer vollen Praxis von deinem behandelnden Arzt mit den Fingern hast ficken lassen?"
Entsetzt sah sie sich in der Schlange um. Verwundert musterte sie. Dafür, dass sie sich mir an den Hals geschmissen und meine Finger förmlich getränkt hatte, schien sie ziemlich prüde zu sein, wenn es darum ging, die Sachen beim Namen zu nennen.
"Nächster, bitte", kam es von dem warm eingepackten Besitzer hinter der Kochfläche.
Nachdem wir unser Essen bestellt und erhalten hatten – der Standbesitzer hatte scheinbar sechs Arme und donnerte die Bestellungen wie am Fließband durch – standen wir an einem der weißen Klapptische.
"Und was macht das Familiendrama?", fragte ich.
Ayla stoppte ihr Gestocher in der Pappschale. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen.
"Du bist ziemlich direkt mit deinen Fragen."
Ich schob mir eine der grünen Paprikastreifen in den Mund. Im Gegensatz zu Ayla, die ihr Gemüse unter einem Berg von Sesam hatte begraben lassen, konnte ich meines noch sehen.
"Stört dich das?" Ich suchte ihr Gesicht nach einem Gefühl des Unwohlseins ab, blieb jedoch erfolglos.
"Nein, gar nicht." Sie lächelte mich an und ich spürte ein Kribbeln ... in meiner Bauchgegend. War das Essen schlecht?
"Aber nur, wenn es dich nicht stört, wenn ich dich auch mit ein paar Fragen grille." Ein lüsterner Ausdruck verschleierte das Grün ihrer Augen.
"Gerne." Ich konnte prima lügen. "Also Familiendrama gelöst?"
Es folgte ein Schulterzucken. "Ich weiß nicht, ob es da eine adäquate Lösung gibt. Mein Vater ist ein notorischer Fremdgeher, meine Mutter liebt den äußeren Schein, keiner kann vernünftig kommunizieren."
"Und was ist dein Problem?"
Sie sah mich an, als hätte ich versucht, sie mit meiner Pappgabel zu massakrieren. "Mein Problem?"
Ich nickte. "Du hast mir eben die Probleme deiner Eltern geschildert. Da du kein Kind mehr bist, frage ich mich, wo du in dem Ganzen stehst. Wieso kümmert es dich, wenn die beiden alles in den Sand setzen?"
"Weil es meine Eltern sind ...", empörte sie sich.
"Wenn sie einem nicht guttun, dann kann man sich von ihnen lösen."
Sie schluckte. "Das ist nicht so leicht ..."
Ich runzelte die Stirn. "Weil du sie liebst?"
Schweigend fixierten ihre Augen den Sesamhaufen. "Klar, liebe ich sie. Irgendwie. Es ist schwierig."
"Und warum?"
"Warum? Bist du doch ein Therapeut?" Ein Hauch von Zorn mischte sich in ihre Stimme. Ein weiteres empfindliches Thema.
Ich schlug einen beschwichtigenden Ton an. "Glücklicherweise nicht. Es gibt nur eine Faustregel. Zehn Minuten."
"Zehn Minuten, was?"
"Zehn Minuten kann man sich über andere aufregen. Wenn es einen dann immer noch beschäftigt, liegt das Problem bei einem selbst. Einen wunden Punkt getroffen oder ein vergangenes Thema getriggert. Jedenfalls kannst nur du es dann lösen."
Ayla drehte die braune Pappgabel in ihrem Mund. Wie gerne ich diese durch meinen Schwanz ausgetauscht hätte.
"Okay, ja vielleicht liegt das Problem auch bei mir", sagte sie. "Sie gehen mir oft auf die Nerven mit ihrer Art, aber ich will sie nicht leiden sehen."
Mein Kiefer zuckte. Leiden. Wie gerne sah ich Menschen leiden.
"Deine Eltern, Tiere." Ich fuhr mir über das Kinn. "Du willst, dass sie alle nicht leiden. Dann kannst du doch kein so schlechter Mensch sein." Das letzte sagte ich mit einem Zwinkern.
Allerdings schien Ayla dies nicht so leicht zu nehmen, wie es gemeint war.
Ernst sprach sie: "Ich will, dass niemand leidet." Ihre Augen traten in den Schatten. "Aber wie du bemerkt hast, habe ich schwache Momente. Viele schwache Momente ..."
Ich ballte meine Fäuste. Auch wenn ich nicht wusste, worauf sie anspielte, klang es wie eine süße Verlockung. Mein ganzer Lebensweg war von schwachen Momenten geprägt. Schwache Momente, die sich jedoch so machtvoll anfühlten. Machtvoll, weil sie andere unter meine Kontrolle brachten und auf ihrem Leid aufbauten.
"So, und jetzt kommen wir mal zu deinen Baustellen", neckte Ayla und legte den Kopf schräg.
Ich nahm ihre leere Pappschachtel weg. "Wenn es dich glücklich macht." Mit den Schachteln lief ich zum Mülleimer und warf sie weg.
"Sehr glücklich", gab sie ironisch zurück und umgriff meinen Unterarm, als wir den Weg weiter an den Ständen vorbei einschlugen. Ich blinzelte zu der Stelle hinab, an dem sie meinen Arm hielt. Sie wollte sich doch nicht etwa unterhaken oder Händchen halten.
"Also, welche Dramen gibt es in deiner Familie?"
"Gute Frage", gab ich ehrlich zurück. "Es gibt keine Familie mehr."
"Oh." Ayla klang schuldbewusst. "Das tut mir leid, ich wollte nicht ..."
"Alles gut. Für manche ist es leichter, sich von Menschen zu lösen, wenn sie einem nicht guttun", knüpfte ich an unsere vorherige Unterhaltung an.
Ihre Hand krallte sich etwas fester in meinen Jackenärmel. "Sie taten dir nicht gut?"
Ich malmte mit dem Kiefer so heftig, dass meine Zähne knirschten.
Ayla schien meine verkrampfte Haltung nicht zu entgehen. "Wir müssen nicht darüber sprechen." Die Festivalzelte zurücklassend schlenderten wir stillschweigend ein Stück weiter. Die Straßenlaternen flammten bereits auf und erhellten den Bürgersteig.
"Wie hast du es geschafft, dich zu lösen?", wisperte sie.
Ich könnte ihr irgendeine Lüge auftischen. Doch ich wollte nicht.
"Von meiner Mutter habe ich mich nicht gelöst. Sie ist gestorben, als ich noch sehr jung war. Zu jung, um mich an sie zu erinnern. Und mein Vater ... Er hat es mir nicht schwer gemacht. Noch nicht mal an seinem Sterbebett."
Ayla senkte den Blick. "Das tut mir leid, dass du sie beide verloren hast."
"Muss es nicht", murmelte ich und starrte nach vorne. "Bei meinem Vater war ich sogar erleichtert, als ich an seinem Grab stand." Wieder betrachtete ich Ayla, die mit gesenktem Blick neben mir herlief. Ich hätte gedacht, dass sie mir eine empörte Standpauke über Familie, Liebe und Versöhnung vor dem Tod halten oder einfach davonrauschen würde. Doch sie hielt noch immer meinen Ärmel.
"Hast du niemand anderes?", fragte sie zögerlich.
"Wie meinst du das?"
"Na, weitere Familie. Tanten, Onkel oder so?"
Ich kniff die Augen zusammen. "Ein Onkel."
"Lebt er noch?"
Ich nickte, zuckte dann jedoch mit den Schultern. Seit unserem letzten Kontakt waren Jahre vergangen. Das muss noch vor meinem Medizinstudium und dem Tod meines Vaters gewesen sein.
"Weißt du, wo er sich aufhalten könnte?"
"Vielleicht wieder Gefängnis ..."
Auch nach dieser Aussage rückte Ayla kein Stück von mir ab.
"Ich brauche es aber auch nicht zu wissen", ergänzte ich.
Für einen Moment lehnte sie ihren Kopf an meinen Oberarm. Nur kurz. Doch meine Muskeln spannten sich sofort an. Es war eine Form der Zuneigung, die ich nicht gewöhnt war.
"Hast du Geschwister?", fragte sie.
"Nein, Einzelgänger von Geburt an."
Sie lächelte "Dito."
"Sicher, dass es da keine Halbgeschwister gibt?" Im nächsten Moment biss ich mir auf die Zunge. Es war eine Form von Alltagssadismus, die ich eigentlich gedacht hatte, abgelegt zu haben.
Doch Ayla blickte nicht verletzt drein. Stattdessen lachte sie und stieß mir in die Seite.
"Haha, nein. Zumindest stand noch niemand auf unserer Matte."
"Hast du mit deinem Vater schon einmal darüber gesprochen?", lenkte ich den Fokus wieder auf sie.
Gespielt entsetzt schlug sie sich die Hand vor den Mund. "Nein, bist du verrückt? Solche Sachen werden bei uns stets totgeschwiegen. Maximal fallen passiv-aggressive Kommentare meiner Mutter."
"Nicht untypisch für diese Generation."
Sie grübelte. "Ja, sie haben generell ein eher konservatives Verhältnis zu manchen Dingen. Wobei es schon sehr rückständig ist." Prüfend blickte sie zu mir hoch. In ihrem Kopf schienen Erinnerungen umherzuwandern. Allerdings wirkte sie unsicher, ob sie diese mit mir teilen wollte.
"Rückständig inwiefern?", lud ich sie ein, mir mehr zu erzählen. Es interessierte mich ernsthaft.
"Nun, zum einen weiß ich noch, wie meine Mutter mir damals verboten hat, Tampons zu benutzen. Sie meinte, die wären nur etwas für Erwachsene und ich solle wie ein gutes Mädchen bei den Binden bleiben. Oh, und ich weiß noch, wie ich sie mit fünfzehn darauf angesprochen habe, dass ich gerne die Pille nehmen würde. Ein paar Freundinnen nahmen sie bereits und Verhütung ist ja auch wichtig. Sie ist komplett ausgerastet und wollte wissen, wieso ich die will. Ich hatte damals einen Freund. Falsche Antwort. Sie hat mich geschüttelt und geschrien, ich wolle doch keins von diesen ekelhaften Flittchen sein." Sie hielt inne. Wir waren an dem Eingang von einem der kleinen Stadtparks angekommen. Mittlerweile war es dunkel geworden.
Fröstelnd rieb sich Ayla über ihre eingehüllten Arme. Sie wirkte so verloren und ich konnte dem Bedürfnis nicht standhalten, über ihre Wange zu streichen. Kühl und weich fühlte sich ihre Haut unter meinen Fingern an.
Mit einem betrübten Blick legte sie ihr Gesicht in meine Hand. Mit dem Daumen strich ich immer wieder von ihrem sanft geschwungenen Nasenflügel hinab. Doch Unmut machte sich in mir breit. Es lief nicht in die Richtung, die ich wollte. Die Richtung, die es sollte. Es war zu nah. Viel zu nah.
Schnell zog ich meine Hand zurück und betrachtete den Park. "Bist du deshalb so aggressiv-promiskuitiv?" Es war ironisch gemeint, aber vor allem sollte es sie verletzen. Ich musste Abstand von ihr gewinnen.
Doch natürlich war es nicht so einfach. Ayla kam näher an mich heran. Der Duft von Jasmin stieg mir in die Nase.
Ihre großen Augen aus funkelndem Grün betrachteten mein Gesicht. Ich hatte selten ein so hinreißendes Gesicht wie ihres gesehen.
"Das stört dich doch nicht, oder ..." Ihre Stimme war ein Hauchen. Federleicht und samten streiften ihre Worte meine Haut. Es lag etwas einladendes in ihnen. Sie lockten mich.
Warum war es nur so verdammt schwer, ihr zu widerstehen?
Wobei es das nicht sein müsste. Es gäbe eine Lösung. Eine finstere Stimme, die den ganzen Nachmittag stumm gewesen war, flüsterte sie mir zu. Es wäre so leicht. Und nicht das erste Mal. Die Tore des Grünstücks vor uns ebneten einen Weg, den ich nur noch beschreiten musste.
"Wollen wir noch ein Stück durch den Park gehen?", raunte ich.
Ayla nickte. Dieses Mal griff sie meine Hand und zog mich mit sich den Pfad hinab, in den dunklen Park.
So naiv ...

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