Milan
Sie reagierte nicht.
Ihre großen Augen starrten noch immer auf die Skalpelle.
Meine Skalpelle.
Das sonst so ordentlich aufgereihte Geschirr lag chaotisch auf dem Boden.
Es gefiel mir nicht. Doch was mir noch viel weniger gefiel, war der Anblick von Ayla in diesem Raum.
Was zur Hölle machte sie hier?
"Ayla", wiederholte ich ihren Namen.
Noch immer schwieg sie. Doch dieses Mal drehte sich ihr Kopf zu mir. Langsam. Schleichend langsam. Am liebsten hätte ich sie gepackt und herumgerissen.
Doch ich hütete mich davor, einen Schritt auf sie zuzumachen. Keine ruckartigen Bewegungen. Wer weiß, was in ihrem hübschen Köpfchen vor sich ging. Wer weiß, ob sie nicht nach dem silbernen Skalpell griff und auf mich losging?
Ihr Blick war ohnehin auf mich geheftet und so ein Scheiß ... ich hatte schon viele Gefühle in den grünen Seen ihrer Augen tosen sehen. Allerdings war es nie so ein absolutes Chaos wie jetzt.
Fassungslosigkeit, Verwirrung, Enttäuschung, Wut ... Es waren zu viele, als dass ich sie alle hätte aufzählen können. Doch eines stach aus den tränengetränkten Augen stärker hervor als alles andere. Etwas, das ich in diesem Raum schon so oft gesehen hatte.
Angst.
"Du ..." Ihr Atem ging stoßweise, versuchte gegen die Tränen anzukämpfen. "Was ist das hier unten?"
Ich verschränkte meine Arme. "Was denkst du, ist es?"
Sie hatte eine Ahnung. Die musste sie haben. Spätestens nach gestern Abend, als ich eines meiner Messer – nicht aus diesem Raum selbstverständlich – genussvoll an ihr angelegt hatte. Warum sprach sie es nicht aus?
Ayla wandte sich wieder zu den Skalpellen.
Es gefiel mir wirklich nicht. Früher hätte ich wahrscheinlich einen Freudensprung gemacht, ein so leichtes Opfer direkt vor der Pritsche vorzufinden, auf die ich sie geschnallt hätte.
Doch jetzt ertrug ich den Anblick kaum. Nicht, dass sie nicht bereits gefesselt auf dieser lag, sondern dass sie hier unten war. Sie gehörte hier nicht hin. Ich wollte sie nicht in diesem Raum.
Mein Kiefer knackte und ich fürchtete, dass er bei all dem Stress der letzten Wochen früher oder später einfach rausspringen würde.
"Was ... was machst du hier unten?" Aylas hohle Stimme erfüllte den Raum.
Ich musste ruhig bleiben. Überlegen, was ich nun tun sollte. Was ich mit ihr tun sollte.
"Was denkst du, tue ich hier unten?"
Ein Anflug von Zorn legte sich in ihren Blick. Beinahe hätte ich lächeln müssen. Ich mochte es, sie ein bisschen auf die Palme zu bringen. Dieses Mal allerdings schmerzte es. Vor allem als der Zorn direkt wieder der Panik wich.
"Du experimentierst hier an Menschen. Du ..." Ihre Stimme brach in ein hilfloses Winseln.
Kreativ. Aber nicht korrekt.
"Warum?" Aylas Worte waren eine Anklage, aber auch ein verzweifeltes Klammern an Hoffnung. Woran konnte ich nicht sagen. Immerhin hatte ich die Hoffnung schon lange ad acta gelegt.
"Ist das hier deine Art Chirurg zu sein?" Sie suchte meinen Blick. Sie suchte mich. Aber sie würde mich nicht finden. Schon gar nicht hier unten.
Das Bild, das sie von mir hatte, existierte nicht mehr. Es hatte sich zerschlagen, als sie diesen Raum betreten hatte.
"Nein", antwortete ich. Von all den Gründen, die mein Handeln erklärten – nicht entschuldigten – hatte sie den falschen gewählt. Was aber auch nicht verwunderlich war, da bereits ihre Grundprämisse falsch war.
"Ich experimentiere hier nicht an Menschen", erklärte ich ruhig. "Ich foltere sie."
Ein schmerzerfüllter Laut entwich Ayla. Weitere Tränen fluteten ihre Augen und Wangen, als sie die Hände auf den Mund schlug.
War meine Antwort so viel schlimmer?
"Warum?", schluchzte sie erneut.
Die Antwort bedürfte wohl einer tiefergehenden Therapie, daher lieferte ich ihr die naheliegendste.
"Ich bin ein Sadist, Ayla." Für einen Moment war ich über meine eigene Ausdruckslosigkeit, mit der ich ihr das alles präsentierte, verwundert. Doch ich hatte das Gefühl, in diesem Moment nicht ich selbst zu sein. Neben mir zu stehen. Ich hatte es nie jemandem erzählt, wollte es nie jemandem erzählen. Und doch sprach ich es jetzt aus. Oder vielleicht nur ein Teil von mir, über den ich keine Kontrolle mehr hatte.
"Es bereitet mir Vergnügen, hier unten Menschen zu quälen", fuhr ich fort. "Sie zu zerschneiden. ihnen Schmerzen zu bereiten." Ein winziges Gefühl der Befreiung machte sich in meiner Brust breit. Ich konnte es nicht leugnen, noch hätte ich es jemals gedacht. Es fühlte sich fast schon gut an, es ihr zu erzählen.
Sie hingegen schien nicht so beglückt zu sein. Ihr Blick glitt unruhig umher.
"Das geht nicht", raunte sie, mehr zu sich selbst als zu mir. "Das ist falsch. Ganz falsch."
Ich ließ ihr Zeit, sich zu ordnen, zu verarbeiten. Ich hatte Unmengen an Zeit.
"Das geht nicht", wiederholte sie. "Wir müssen jemanden holen. Du musst ... du kannst nicht ..."
Und das war mein Stichwort. Auch wenn ich nach dem Motto "Und nach mir die Sintflut" lebte, hieß das nicht, dass ich mich leichtsinnig in die Wellen warf.
Langsam lief ich von der Tür zu der Kommode.
Ayla krabbelte zurück. "Was machst du? Bleib dastehen!"
Ich musterte sie kurz, setzte jedoch meinen Weg fort.
Ihre Stimme wurde lauter. "Stopp!"
Neben der Kommode unweit von ihr blieb ich stehen. Sachte öffnete ich die Tür.
"Was machst du da?" Jetzt war es ein Schreien und Ayla wich ein weiteres Stück davon. Aber sie war noch zu überwältigt. Zu erschlagen von der Erkenntnis. Sie ignorierte die Skalpelle, die als Waffe hätte dienen können. Die Angst setzte ihr Scheuklappen auf.
"Und wen sollten wir deiner Meinung nachholen, Ayla?", fragte ich ruhig. Auch wenn sie aktuell alles andere als klar war, wollte ich ihre Aufmerksamkeit von den Geräten fernhalten.
"Ich weiß nicht. Einen Psychiater vielleicht. Du musst ... in eine geschlossene Klinik."
"Nicht Gefängnis?" Fast lautlos öffnete ich das Fläschchen im Schrank und träufelte ein paar Tropfen auf eines der gefalteten, weißen Tücher daneben.
"Vielleicht auch das ..."
In dem Moment zog ich das Tuch hervor.
"Was ..." Doch Ayla konnte die Frage nicht vollenden, als ich auf sie zu schnellte.
Meine Hand packte ihre Schulter.
Blitzschnell drückte ich sie zu Boden.
"NEIN", Aylas Stimme war panisch, aber sie zappelte nicht. Geradezu starr verharrte sie, wie eine Statue festgefroren, unter meinem Griff. Sie hätte mir ohnehin nichts entgegenzusetzen. Lediglich ihre Stimme und Augen waren Spiegel ihrer Panik und aller Emotionen, die dort wie in einem Gefängnis umherschwirrten und ausbrechen wollten.
"Bitte nicht", schluchzte sie. "Milan, bitte ..."
So ein schönes Wort. So viel schöner, wenn es aus ihrem Mund kam. Aber ich musste es ersticken.
Das Tuch legte sich auf ihre Nase und Lippen.
Sie versuchte die Luft anzuhalten. Das Chloroform nicht einzuatmen.
Und tatsächlich regte sich ihr Körper. Ihre Hand griff meine, wollte sie von ihrem Gesicht wegziehen.
Doch natürlich klappte es nicht.
Wie ich mich in diesem Moment hasste. Es war ein anderer Hass, als das quälende schlechte Gewissen, das sich früher breit gemachte hatte. Nach meinen ersten Morden.
Ein plötzliches Keuchen riss mich aus meinen Gedanken.
Ayla schniefte, hustete. Die Laute wurden gedämpft durch das Tuch.
Ihre Lider flatterten und dann sackte sie zusammen.
Ich fing sie auf. Ihr schlaffer Körper lag in meinen Armen. Es zerstach mir das Herz.
Wie lange hatte ich nicht mehr geweint? In diesem Moment stand ich näher davor als seit Jahren.
Aber was hatte ich erwartet? Dass es mit ihr ewig so weiter gegangen wäre? Klar, es gab Serientäter mit Ehepartnern, Familien.
Eigentlich peinlich. Schafften sie es Jahre, ihr Geheimnis vor allen anderen zu bewahren, war ich bereits nach ein paar Wochen, Monaten gescheitert.
Am liebsten hätte ich sie mit ihren Sachen auf die Straße gesetzt und alles wäre vergessen. Doch ich konnte sie nicht gehen lassen. Es wäre Selbstmord. Und eigentlich hatte ich doch bereits geplant, mir ein neues Opfer zu eigen zu machen. Nicht sie. Eine andere, noch unbekannte Person.
Ich hatte bereits mit der Planung begonnen. Eine Region bestimmt, ein gefälschtes Kennzeichen besorgt, Planen für den Kofferraum geholt ...
Und dann war da Ayla gewesen. Die Zeit mit ihr. Es war beinahe wie eine normale Beziehung gewesen.
Doch demgegenüber hatte die nächste Mordplanung gestanden.
Die Sehnsucht nach ihr gegen den Drang zu foltern.
Die erfüllende Lust mit ihr im Bett gegen den Rausch des Schmerzes eines anderen Menschen.
Nie war der Kontrast stärker gewesen. Nie hatte ich es klarer und deutlicher gesehen, wie abseits von jeglicher Norm ich war. Sie hatte mir einen kleinen Blick auf eine Welt gegeben, die ich vielleicht hätte haben können, wenn ich bestimmte Entscheidungen nicht getroffen hätte. Wenn ich willensstärker gewesen wäre. Wenn ich dieses Verlangen erst gar nicht gehabt hätte.
Wenn ich nicht der wäre, der ich war.
Es war wie ein wunderschönes Versprechen, das jedoch nie eingelöst werden würde. Ebenso, wie sie niemals lebendig diesen Keller verlassen durfte.
Auch wenn alles in mir dagegen anschrie, wäre es wohl der leichteste Weg.
Und ich war ein schwacher Mann.
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Down our Darkest Paths
HorrorMan sagt, dünn sei die Mauer zwischen Liebe und Hass. Doch wieviel dünner ist sie zwischen Schmerz und Lust ... Als die junge Studentin Ayla in die Praxis von Doktor Degard reinstolpert, ist sie sofort gefesselt von dem attraktiven Arzt. Fast verges...