Kapitel 4

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Ayla


"Ugh Ayla!" Das theatralische Stöhnen meiner Mitbewohnerin ließ mir beinahe das Handy aus der Hand fallen.
"Was ist passiert?", hakte ich nach und richtete mich angespannt auf.
"Sag mir bitte, dass du nicht schon wieder auf Gesundheitsseiten nach der nächsten Horrordiagnose scrollst, sondern tinderst oder so?" Seufzend ließ sie sich neben mir auf die Couch in unserem kleinen Wohnzimmer nieder. In der Luft hing noch immer der Duft von Gemüselasagne, die ich in der kleinen Kochnische, die ebenfalls in eine Ecke des Wohnbereichs gequetscht worden war, zubereitet hatte.
Fee fuhr sich durch das kinnlange weißblonde Haar, bei dem sich ein paar Strähnen in einem ihrer zig goldenen Ohrsteckern verfangen hatten. "Also?"
"Hm?" Meine Aufmerksamkeit lag wieder auf dem Handydisplay und der Homepage von gesundheitsfrage. Aktueller Thread: Kann das Hautkrebs sein?
Dem Post waren einige Bilder beigefügt, die ich bereits akribisch mit meiner dunkelbraunen Hautverfärbung verglichen hatte. Es war die blanke Panik, die mich ereilt hatte, als ich den Fleck vor wenigen Stunden entdeckt hatte. Mit zitternden Händen hatte ich die Stelle abgetastet und mit meiner Handytaschenlampe beleuchtet. Ein normaler Leberfleck war es nicht, so viel war ich mir sicher.
Mir war speiübel geworden und mein Brustkorb hatte sich zugeschnürt. Bilder von Bestrahlungen, Chemotherapien, die allesamt fehlschlugen, fluteten mein Gehirn. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Die Gedankenspirale war immer die gleiche und ich konnte sie nicht durchbrechen. Sie endete mit meinem Tod. Einem langen, qualvollen Tod.
Mein erster Impuls war es, sofort ins Krankenhaus zu fahren. Nur mühsam hatte ich ihn bezwingen und die Tränen über die Bilder von einem leidvollen Ende runterschlucken können. Immerhin musste ich mich durch Online-Recherche auch erst absichern, dass es sich wirklich um schwarzen Hautkrebs handelte.
Es war wie ein Wechselbad aus Beruhigung, falls ich Beispiele fand, die meine Befürchtungen widerlegten, und nackter Angst, bei allen Beweisen, die eine schlimme Erkrankung untermauerten. Letztere überwiegten immer, wie auch die Panik. Sie betäubte alle anderen Gefühle und vor allem meine Vernunft. Das wusste ich, wobei das Wissen allein nicht half. Nicht in solchen Stunden. Was für andere irrational war, könnte für mich nicht rationaler sein. Wie auch jetzt.
"Was guckst du da?" Unwirsch wurde mir mein Handy entrissen.
"Hey", entfuhr es mir und ich versuchte verzweifelt mein Gerät wiederzubekommen. Doch keine Chance.
Fee beäugte das Display. "Ernsthaft, Ayla? Du hast keinen Hautkrebs."
"Das weißt du doch gar nicht." Ungelenk hob ich meinen Fuß, streifte die blaue Wollsocke ab und hielt ihr meine Fußsohle hin. "Und was ist das dann unter meinem mittleren Zeh?"
Die Augen verdrehend legte Fee mein Handy beiseite und erbarmte sich meiner. Fachmännisch beäugte sie die besagte Hautpartie.
"Das ist ein Bluterguss."
"Aber es ist braun", klagte ich.
"Das wirkt durch die Hornhaut so. Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass du krebsfrei bist." Sie erhob sich wieder und lief zur Küchenzeile. "So wie die letzten Male auch."
"Ich weiß ja nicht."
"Ernsthaft? Glaub mir, ich kenne mich mit Verletzungen allerart aus und erkenne Blut, wenn ich es sehe. Auch unter dicker Hornhaut."
"So dick ist die nicht. Oder?"
Fee verdrehte die Augen. "Nein, das ist nur ein Bluterguss. Vertrau der Expertin."
Nicht gänzlich überzeugt zog ich meine Socke wieder an und zog mir eines der quietschbunten Plüschkissen aus dem Rücken. Ein schlechtes Gewissen machte sich breit. Natürlich sollte es Fee besser wissen. Und ich fühlte mich schlecht, sie immer wieder aufs Neue mit meinen Krankheitsbedenken zu belästigen, wo sie doch selbst an einer ernsten Krankheit litt. Mit Hämophilie war nicht zu spaßen.
"Schau mich nicht so mitleidig an." Sie hasste es, wenn jemand sie aufgrund ihrer Blutgerinnungsstörung anders behandelte. Nach ein paar Gläsern zu viel Wein, scherzte sie immer, dass sie doch überaus emanzipiert sei. An der Krankheit litten immerhin vorwiegend Männer und sie sei die feministische Ausnahme. Ein schlechter Scherz, der mir immer mitten ins Herz schnitt. Doch jeder hatte seine Art mit seinen Problemen umzugehen und das hatte ich zu akzeptieren.
Fee entging mein Trübsal nicht. "Bitch, hör sofort mit diesem Blick auf oder guck den Rest des Abends die Tapete an." Kopfschüttelnd erhob sie sich und lief zur Küchenzeile.
Schmollend legte ich meine Arme um das Kissen. "Ist ja gut." Ich betrachtete meinen Fuß. "Vielleicht sollte ich doch nochmal meinen neuen Hausarzt konsultieren."
Überrascht hielt Fee inne, während sie den Kühlschrank durchsuchte. "Hausarzt? Hat deine Hautärztin dich etwa auch auf die schwarze Liste gesetzt?"
Am liebsten hätte ich ihr das Plüschkissen entgegen geschleudert, hatte aber Angst die Weißweinflasche, die sie just in diesem Moment hervorgezaubert hatte, zu treffen. "Ich stehe nicht auf der schwarzen Liste. Weder bei meiner Hautärztin noch bei meinem alten Hausarzt." Ich schlang meine Arme enger um das Kissen. "Er meinte nur, dass ich, bevor ich noch einmal mit Beschwerden aufkreuze, lieber eine Therapie aufsuchen sollte." Dieser Idiot.
"Ein bisschen Recht hat er doch, oder?"
"Was?" Entsetzt sah ich Fee an. "Fällst du mir auch in den Rücken?"
Fee schüttelte den Kopf und kam mit der Flasche sowie unseren einzigen zwei Weingläsern zurück. "Natürlich nicht. Wenn du nicht bereit bist, dann wird es nicht helfen." Sie ließ sich neben mir nieder und schenkte uns ein. "Aber hast du nicht das Gefühl, dass deine Lebensqualität schon enorm eingeschränkt wird durch deine ständigen Arztbesuche?" Sie vergaß meine Krankenhausnotfallbesuche.
"Ja, ich weiß, Frau Psychologin" Frustriert warf ich den Kopf in den Nacken. Während ich mich durch Kunstgeschichte schlug, kämpfte Fee im siebten Semester Psychologie um ihren Abschluss.
"Aber ich hatte doch schon eine Therapie", murmelte ich.
Fee hielt mir das Glas hin, das#s ich dankend ergriff. "Aber die zielte nicht auf dein aktuelles Krankheitsbild ab."
Da hatte sie Recht. Zwar war das Thema Ängste schon damals präsent gewesen, aber nicht meine Panik für etwaige Erkrankungen. Damals war es ohnehin nicht so ... extrem gewesen. Andere Probleme waren drängender gewesen. Damals ...
"Ich will dich auch zu nichts drängen, aber wenn man es selbst nicht auf die Kette bekommt, ist es absolut in Ordnung, sich Hilfe zu suchen. Und sei es nur ein Erstgespräch."
Wir süppelten beide an unserem Wein.
Nach einer Weile sprach Fee: "Vielleicht kann dein neuer Hausarzt dir ein gutes Therapiezentrum empfehlen? Wie lief der Termin heute eigentlich?"
Meine Wangen glühten. "War gut ..." Ich verkrümelte mich in die Couch.
Fee hob eine Augenbraue. "Was ist passiert?"
"Vielleicht habe ich Migräne oder Spannungskopfschmerzen."
"Okay?"
Ich biss mir auf die Innenseite meiner Wange. "Vielleicht will ich mit dem Arzt in die Kiste ..."
"Was?" Beinahe verschluckte Fee sich an ihrem Wein. "Wieso das? Er ist dein Arzt? Ist das überhaupt legal?"
"Ja, nein, weiß ich nicht. Er sah wirklich sehr, sehr gut aus."
"Und?" Äußerlichkeiten schienen für Fee als Grund für sexuelle Anziehung nicht ausreichend zu sein.
Unwohl wand ich mich unter ihrem Psychologinnenblick. "Er hat halt diesen ... Touch. Ich weiß auch nicht. Da ist etwas an ihm. Etwas an seiner Erscheinung spricht mich einfach an."
"Touch, soso." Naserümpfend nahm Fee einen weiteren Schluck. "Den Touch, den auch deine Exfreunde hatten."
Ich kratzte mich an der Schläfe. "Nee, das glaube ich nicht. Er ist anders."
"Ach Ayla." Ein tiefer Seufzer entwich Fee. "Bist du wirklich sicher, dass du dich wieder auf einen Mann einschießen willst?"
"Hä? Du meintest doch, ich soll tindern?"
"Ja ach, das war nur ein Scherz. Vielleicht als Spaß für nebenbei." Ihr Blick suchte meinen. "Dein Männergeschmack ist katastrophal."
Ausweichend winkte ich ab. "Er wird schon kein Axtmörder sein."
Ein hohles Lachen folgte. "Das will ich für einen Arzt auch hoffen. Es muss auch nicht immer der Axtmörder sein. Darf ich dich an deinen Ex erinnern."
Das brauchte sie nicht. Ich kannte die Fehltritte meiner Verflossenen in und auswendig. Drogensucht, Affären. Ich wusste nicht, was schwerer wog.
"Er ist nicht so."
"Weißt du doch nicht", zischte Fee. "Als Arzt sitzt er medikamententechnisch direkt an der Quelle. Außerdem haben gerade die doch ständig Affären mit ihren Fachangestellten, Empfangsdamen ..."
"Ziemlich voreingenommen für eine Psychologin", triezte ich.
"Ich will dich nur schützen. Vor allem ist er halt dein Arzt."
"Kann mir auch einen neuen suchen."
"Sehr viele bleiben nicht mehr übrig." Fee leerte den Rest ihres Glases.
"Jaja, ist ja gut. Er spricht halt etwas in mir an. Das ist aber bestimmt nur so eine körperliche Anziehungskiste." Als ob es einen Unterschied machen würde. Die Grenzziehung zwischen rein körperlicher und seelischer Bindung bekam ich im Gegensatz zu Fee nur selten hin. Eigentlich so gut wie gar nicht. Ich redete mir jedoch lieber ein, dass es in diesem Fall nur körperlich war. Er sah immerhin unglaublich gut aus. Das konnte doch nur sexuell sein. Und für Sexualität muss man sich nicht schämen, hatte auch meine Therapeutin damals gesagt. Ausnahme illegale Neigungen, hatte sie noch hinterhergeschoben. Ich hatte ihr damals nur bedingt zugestimmt, auch wenn ich es nicht offen gesagt hatte. Nur weil etwas nicht illegal war, hieß dies nicht, dass es moralisch einwandfrei war. Doch darüber hatten wir nicht gesprochen. Wir hatten über vieles nicht gesprochen.

Down our Darkest PathsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt