Kapitel 47

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Ayla


Für einen Moment hatte ich das Gefühl, jede meiner Zellen würde zerspringen, so stark zitterte ich. Blut rauschte in meinen Ohren, als ob reißende Sturmfluten durch meine Gehörgänge tosten. Vielleicht war es aber auch nur das Geräusch meines hämmernden Herzens, meines wild pochenden Pulses. Ich hatte das Gefühl in dem Moment genauso wenig da zu sein wie Ensel, der reglos vor mir auf dem Boden lag.
Tot.
Ich konnte es nicht fassen. Nicht begreifen, was ich soeben getan hatte.
Drei Stiche.
Einen in den Rücken. Zwei in den Hals.
Die ersten beiden waren dazu gedacht, ihn zu töten. Er hatte Fee ermordet. Er hatte Famke getötet. Er war drauf und dran Milan umzubringen.
Die zwei Stiche waren dazu gedacht, ihn zu töten. Es sollte schnell gehen. Aber es hatte gedauert. Dass der Stich in den Rücken nicht tödlich war, damit hatte ich gerechnet. Aber der erste in den Hals ... in Filmen ging es doch auch immer so schnell. Aber Ensel hatte geröchelt und wie in Trance hatte ich ein weiteres Mal zugestochen. Noch immer konnte ich nicht begreifen, was ich soeben getan hatte. Ich hatte das Leben eines Menschen ausgelöscht und noch schlimmer ...
Der letzte Stich war dazu gedacht, ihm wehzutun. Ich wollte sein Leid nicht beenden. Ich wollte, dass er litt, bevor er diese Welt verließ. Wie Fee, die elendig gestorben war. Und wie Milan, der blutgetränkt und stöhnend an der Wand lag.
Milan.
Der Gedanke ließ mich aus dem Nebel fahren, der mich umhüllte, seit ich auf Ensel eingestochen hatte. Diesen Lügner und Mörder. Aber letzteres war ich nun auch. Doch damit konnte ich mich nicht befassen, noch nicht.
Mit schlotternden Gliedern kroch ich auf Milan zu. Er atmete schwer. Seine Augen waren halb geschlossen.
Und es war so viel Blut. Sein Bein. Sein Bauch. Alles ertrank in Rot.
Ich spürte erneut, wie die Tränen meine Wangen hinabliefen.
"Milan?" Meine Stimme zitterte wie mein Körper, als ich ihn vorsichtig anstieß.
Kurz pressten sich seine Lider zusammen, dann blickte er mich an. Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, er würde davon gleiten.
"Bleib hier", flehte ich und rüttelte vorsichtig an seiner Schulter. Er durfte nicht auch noch gehen.
Mit angestrengter Miene setzte er an, aber seine Stimme brach in dem Moment durch ein flaches Husten weg.
"Alles gut, du brauchst nicht zu reden", erwiderte ich sachte. Ich musste mir etwas einfallen lassen. Etwas tun. Es war ein heilloses Chaos. Ein Alptraum. So viel Tod.
Mein Blick fiel auf einen älteren Mann, der merkwürdig verdreht auf dem Boden lag. Sein Gesicht war aschfahl. Mir dämmerte, wer er war. Kurz stieg mir die Magensäure hoch, aber ich schluckte die aufkeimende Übelkeit runter. Ich musste sie runterschlucken. Ich musste jetzt stark sein und fokussiert.
"Ich rufe einen Krankenwagen, ja." Die Worte waren an Milan gerichtet, sollten aber auch mich beruhigen. Ungelenk friemelte ich mein Handy aus der Hosentasche.
"Warte." Begleitet von einem erneuten Husten legte Milan seine Hand auf meine.
"Du brauchst dringend einen Arzt", insistierte ich.
Seine indigofarbenen Augen, die mittlerweile blutunterlaufen waren, taxierten meine. "Ich habe ihn getötet."
Ich verstand nicht, was er meinte. Mein Gehirn ratterte – zu überwältigt von den vergangenen Minuten, die wohl die schlimmsten meines Lebens waren. Da begriff ich seine Worte.
"Nein, das ist doch ..."
"Ayla, bitte. Falls ich nicht überlebe, gib mir die Schuld. Ich habe mit ihm gekämpft und ihn dabei so tödlich verletzt, wie er mich."
Ein weiterer Schwall Tränen flutete meine Augen. "Du wirst nicht sterben. Hier wird keiner mehr sterben."
Ich umklammerte seine Hand und führte sie an meine Wange. "Versprich mir das, bitte."
Geradezu liebevoll strich er mit dem Daumen über meine Haut. "Es ist okay, Ayla. Es musste irgendwann ein Ende finden und ich habe es verdient." Kurz hielt er inne. Die Bewegung schien ihn zu schmerzen. "Aber du nicht. Du hast nach allem, was ich dir zugemutet habe, ein Recht, hier heile rauszukommen."
Weinend schüttelte ich den Kopf. "Nein ..."
"Bitte, Ayla, ich wünsche es mir."
Ich schniefte. Es war alles zu viel. Ich wollte nicht, dass er starb – auch nach allem, was er getan hatte. Mein Blick wanderte durch den Lagerraum, streifte die Fässer. Wie viele Leichen diese wohl zum Verschwinden gebracht hatten.
Vielleicht sah so die Hölle aus. Ein Raum voller Tod und Leid und Blut.
Vielleicht hätte ich bereits die Polizei rufen sollen, als ich noch vor der Tür gestanden und gelauscht hatte. Aber es war noch nicht zu spät.
Vehement schüttelte ich wieder den Kopf. "Nein. Ich werde Hilfe holen und mir etwas überlegen."
"Ayla."
"Nein, Milan." Ich blickte ihn fest an. "Ich ... ich werde mir etwas einfallen lassen, wie wir das ... wie wir das gelöst bekommen." Ich brauchte nur einen Plan, allen voran eine Erklärung.
"Du hättest das nicht tun brauchen", unterbrach Milan meine Gedanken.
Fragend blickte ich ihn an.
"Du hättest die Klinge nicht nutzen müssen. Du hättest einfach mit ihm gehen und die Wahrheit erzählen können."
Die Klinge, mit der ich Ensel getötet hatte. Er hatte sie mir in die Hand gedrückt, als dieser entnervt den Kopf in den Nacken geworfen hatte. Ein Moment der Unachtsamkeit. Auch wenn Milan keinen Ton gesagt hatte, hatte sein Blick Bände gesprochen. Er sorgte sich um mich. Die Klinge sollte mich vor Ensel schützen. Aber ich hatte meinen eigenen Plan gefasst.
Als Ensels Arme sich um mich gelegt hatten, hatte ich Fee gesehen. Das blonde, blutgetränkte Haar. Und es war wie ein Impuls, eine automatische Reaktion. Meine Hand hatte das Messer umgriffen und zugestochen. In dem Moment schien es so richtig gewesen zu sein, aber ich wusste, dass irgendwann das Gewissen zurückkehren und ich begreifen würde, was ich da getan hatte. Genauso, wie ich irgendwann begreifen würde, was ich in Milans Keller mitangesehen hatte.
"Die halbe Wahrheit", schob ich geistesabwesend hinterher. "Ich hätte auch erzählen können, wie ich dir bei einem Mord zugesehen und beim Vertuschen geholfen habe."
Milan schnaubte behäbig. "Das hättest du nicht erzählen müssen. Und selbst wenn ... du hättest kooperiert. Dazu beigetragen einen Serienmörder zu überführen. Das hätte kaum ein Strafmaß für dich bedeutet. Deine Aussage wäre wertvoll. Jedes deiner Worte ist wertvoll, Ayla."
Mit großen Augen sah ich ihn an. Vielleicht waren meine Worte ja wirklich wertvoll. Und vielleicht konnten sie einen Weg hier rausebnen.
"O nein." Milan stöhnte gespielt theatralisch.
"Hm?"
"Was denkt sich dieser hübsche Kopf wieder aus?" Er wollte gegen meine Schläfe tippen, aber seine Hand sank zu Boden.
"Krankenwagen", antwortete ich und fand endlich ein wenig Klarheit in meinen wirren Gedanken. "Du brauchst sofort einen Krankenwagen."
Gerade wollte Milan seine Lippen öffnen, aber ich legte meine Hand auf sie. Sanft natürlich, um ihm keine weiteren Schmerzen zubereiten.
Mit der anderen Hand wählte ich bereits die 112. Alle sagten, dass ich furchtbar schlecht im Lügen sei. Aber vielleicht musste ich gar nicht lügen, sondern einfach nur das erzählen, was wahr war und sich wahr anfühlte.
"Notruf Feuerwehr und Rettungsdienst. Wo genau befindet sich der Notfallort?"
"Hallo", sprach ich mit zitternder Stimme. "Ich brauche Hilfe."
"Hallo, wo befinden Sie sich gerade?"
"Ich ... ich bin auf einem Hof und hier ist ... wir brauchen sofort einen Krankenwagen und die Polizei. Hier sind mehrere Menschen verletzt und tot ..." Mit bebender Stimme beschrieb ich, was sich vor mir erstreckte. Vage und immer wiederholend, dass ich Hilfe bräuchte und nicht wisse, was los sei.
Milans Augen starrten mich aufmerksam an, aber seine Lider begannen sich mit der Zeit wieder zu senken. Er verlor das Bewusstsein.
Mit einem "Ich kann nicht ... bitte kommen Sie." legte ich auf. Zehn Minuten würde der Rettungsdienst in etwa brauchen. Das war wenig Zeit und es gab noch einiges zu tun.
"Milan", erwiderte ich panisch und rüttelte ihn sanft.
Er schlug die Augen auf. "Ich kann nicht mehr ..."
"Nein, nein. Du musst hier bleiben bei mir." Ich suchte seinen Blick, aber sein Fokus entglitt immer wieder.
Ich umgriff sein Gesicht. "Bitte nur kurz. Es ist wichtig, dass du mir jetzt zuhörst. Die Polizei und der Krankenwagen werden kommen. Und wenn du wieder aufwachst und ich nicht bei dir bin, ist es wichtig, dass wir die gleiche Geschichte haben."
Fahrig wandte er den Kopf. "Welche Geschichte?"
"Ich liebe dich", rutschte es mir vor Panik heraus, weil dies vielleicht meine letzte Chance war, ihm die Worte noch einmal persönlich zu sagen.
Kurz zuckten seine Lippen nach oben. "Ich liebe dich auch, Ayla."
Mein Herz pochte aufgeregt, aber es war keine Zeit für Gefühlsduselei.
"Ensel hat das hier angerichtet. Er war auf einer mörderischen Beschattungsmission, aber nicht wegen dir, sondern wegen ..." Mein Blick fiel auf den Mann mit dem verrenkten Körper. "Wegen ihm, der die Leichen entsorgt."
"Meine Leichen."
"Nein, es gibt keine Leichen. Keine von dir." Meine Stimme war klar und fest.
Er stöhnte auf und wollte wieder die Augen schließen.
Meine Finger gruben sich tiefer in seine Haut. "Milan, hör mir zu." Mein Ton war harscher als beabsichtigt, aber die Worte mussten in seinen Kopf. Sie mussten sich dort so tief eingraben, dass er sie auch nach einem Koma parat hatte. "Es gibt keine Leichen! Du hast nie jemanden getötet!"
"Nicht?"
"Nein, du warst hier zu Besuch bei deinem Freund."
"Halbbruder", korrigierte Milan mich.
Verdutzt sah ich ihn an. Doch wir hatten keine Zeit für Erklärungen.
"Du warst bei ihm. Ensel hat dich hierhergelockt, weil er dachte, ihr steckt unter einer Decke. Er hat dieses Massaker angerichtet. Er hat auch Fee getötet. Ich bin hierhergekommen, weil ich bei meinem letzten Telefonat mit ihm gemerkt hatte, dass etwas nicht stimmt. Ich habe ihn erstochen. Aus Notwehr." War das eine halbwegs runde Geschichte?
Milan lächelte matt. "Nicht ganz."
"Bitte, das ist unsere einzige Chance ..."
"Nein, das meinte ich nicht. Du hast ihm nur in den Rücken gestochen. Die zwei Stiche in den Hals und Bauch war ich, als er dich wieder angreifen wollte."
Zitternd atmete ich aus. "Du musst die Schuld nicht auf dich nehmen. Ich kann ..."
Da merkte ich, wie er wieder abschweifte.
Sanft schüttelte ich seinen Kopf. "Okay, das ist die Geschichte. Dicht an der Wahrheit, nur mit ein, zwei Abweichungen. Falls es um Details geht, können wir uns nicht erinnern. Es war ein Ausnahmezustand."
"Jaja." Seine Stimme war ein mattes Flüstern. "Lass mich bitte endlich schlafen."
Mit frischen Tränen in den Augen rüttelte ich ihn. "Nein, du musst hierbleiben."
"Nein, Ayla." Mit einem Mal klang er wieder wach und anwesend. Voller Ernsthaftigkeit und Überzeugung folgten seine nächsten Worte, die tiefer schnitten als alle zuvor. "Glaub mir. Es ist besser, wenn ich gehe."
"Nein!" Beinahe schrie ich.
Die Laustärke schien ihn kurzzeitig wieder klar werden zu lassen. Auch wenn es nur Sekunden waren.
"Du hast das hier nicht verdient", murmelte er und die Klarheit driftete wieder davon. "Auch nicht die Lügen und das was kommt ..."
"Das ist nicht wichtig. Nicht mehr ...", hauchte ich. "Wie gesagt, ich treffe meine schlechten Entscheidungen allein und ich möchte diesen Pfad nicht ohne dich gehen, Milan."
"Mhm ..." Dann verschwand er und ließ mich allein.
Ein Heulkrampf durchschüttelte mich, aber ich durfte jetzt nicht zusammenbrechen. Es gab noch einiges zu tun, bevor die Polizei kam. Mit wackeligen Beinen stand ich auf. Ich musste das allein schaffen. Ich konnte das allein schaffen.
Es gab ein Handy und einen Laptop, die in einem Fass verschwinden mussten. Mit geballten Fäusten lief ich zu Ensels Leiche. Es war das Einzige, was ich noch tun konnte.
Dann würden nur noch Worte bleiben.
Meine und vielleicht noch Milans. Vielleicht ...

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