Milan
Vier Jahre später
Eine sachte Brise streifte mein Gesicht. Für einen Moment genoss ich die Kühle, während die warmen Sonnenstrahlen meine Haut kitzelten. Nur einen Moment, dann wandte ich dem Licht und der wunderschönen Aussicht auf das bunte Meer aus Dächern und Bäumen den Rücken zu. Entspannt lehnte ich mich gegen das steinerne Balkongelände. Doch als ich wie automatisch mein Bein anwinkelte, durchzuckte mich ein stechender Schmerz.
Verdammt, ich vergas es immer wieder. Dabei waren bereits vier Jahre vergangen. Vier Jahre seit sich das rotierende Blatt einer Kettensäge in das Fleisch meines Beines, bis in den Knochen, gesenkt hatte. Neben der Tatsache, dass ich wohl auch die nächsten Jahre – trotz intensiver Reha – leicht humpeln würde, hatte das Ganze eine hässliche Narbe zurückgelassen. Auch meinen Bauch zierte eine ähnlich noch immer dunkelviolette Verletzung. Meines Erachtens hätten die Kollegen sich beim Nähen ein wenig mehr Mühe geben können. Aber es war eine Rettung in letzter Sekunde gewesen.
Dass ich überhaupt noch lebte, als die Krankenwagen eintrafen, grenzte an ein Wunder. Der Blutverlust war gravierend gewesen, aber wie durch ein Wunder hatte das Messer keines der inneren Organe verletzt.
Ein Wunder ...
Ein Wunder, das Ed nicht hatte. Ed. Sein Gesicht hatte so viele Nachrichtenblätter geziert – online und offline.
Der Mörder-Bauer.
Der deutsche Dahmer und seine Fässer.
Der Leichen-Landwirt.
Die Namen waren so schlecht, wie die Artikel falsch waren. Zumindest rund um die Geschehnisse in Lagerhalle Zwei, die Schauplatz eines Massakers geworden war. Und auch die zahlreichen Leichenreste, die an den Fässern, dem Mahlwerk und in der gesamten Lagerhalle noch gefunden werden konnte, wurden ihm zugerechnet. Fast alle meiner Morde und eine Reihe weiterer. Irgendwann würde ich mir Gedanken machen müssen, wie ich den Tod der zwei Personen, die noch auf meiner Liste gestanden und deren Spuren nicht mehr im Mahlwerk hatten nachgewiesen werden können, weitergeben konnte. Natürlich machte es nichts gut ...
Manchmal konnte die Gewissheit jedoch ein letzter, wichtiger Trost für die Angehörigen sein.
Auch wenn ich das Bild, das von Ed gezeichnet wurde, verabscheute, konnte ich der Presse dankbar sein. Der Druck von Außen sorgte für Druck im Inneren. Die Polizei musste schnell arbeiten und noch schneller Ermittlungsergebnisse präsentieren. Wem gehörten die Leichenrückstände, die in den Fässern gefunden wurden? Was trieb den suspendierten Polizisten Ensel Prickard an, an jenem Abend alles und jeden abzuschlachten? Wieso starb eine unbescholtene Arzthelferin?
In der Tat war Famkes Erscheinen etwas, das sich noch immer durch mein Gewissen fraß. Immer wieder hatte ich mir die Frage gestellt, was sie auf diesen beschissenen Hof getrieben hatte? Aber manchmal fiel die Antwort so simpel aus, dass es absurd schien. Eine Freundin von ihr brachte bei einer Polizeibefragung Licht ins Dunkel. Sie hatte mich seit geraumer Zeit gestalkt, weil sie davon überzeugt war, dass ich eine Partnerin hatte und sie mehr Gefühle zu hegen schien, als sie es mir gesagt hatte.
Wütend krallten sich meine Finger um das Geländer. Was für eine verfluchte Verkettung von verdammten Umständen, das Leben manchmal mit sich brachte. Sie war gestorben, weil sie mir gefolgt war. Genau an diesem Tag, genau zu diesem Hof.
"Denkst du wieder an früher?" Ayla trat auf den Balkon hinaus.
Ich musterte sie. "Bringt es nicht Unglück, wenn der Bräutigam die Braut vor der Hochzeit sieht?"
Sie lächelte und zupfte sich das hochgesteckte dunkle Haar zurecht. Schade, ich mochte es lieber, wenn sie es offen trug. Wobei sie immer hinreißend aussah.
"Ach das ist Irrglaube und außerdem eh hinfällig, wo wir doch gleich in einem Auto sitzen. Wobei ..." Sie glitt neben mich an das Geländer. "Ich schon darauf geachtet habe, an die vier Essentials zu denken."
"Die vier was?"
Ayla lachte. "Na, etwas Neues." Sie deutete an sich hinunter und mein Blick streifte das weiße, bodenlange Spitzenkleid, das wie eine zweite Haut auf ihrem zierlichen Körper auflag.
"Auch wenn die Verkäuferin meinte, dass man beim Standesamt eher kürzere Kleider trägt." Ayla strich andächtig über den filigran genähten Stoff. "Aber da das unser einziger Hochzeitstag ist, darf man sich doch den Wunsch nach einem langen Kleid erfüllen. Und ich wollte schon immer in einem langen Hochzeitkleid heiraten."
Sanft strich ich ihr über die Schulter und den feinen Stoff. "Es steht dir ausgezeichnet." Mein Finger verharrte an dem Ende ihres Schlüsselbeins. "Sogar mit BH."
Verführerisch schmunzelnd lehnte sie sich zu mir herüber und ihre Arme legten sich sanft um mich. "Ich kann ihn danach gerne ausziehen."
Wahrscheinlich würde ich das für sie übernehmen.
"Was sind die anderen drei?", fragte ich.
Ayla löste sich von mir und deutete auf die feingliedrige Kette um ihren Hals. "Etwas Altes." Sie hatte mir das Schmuckstück bereits gezeigt. Die Kette gehörte Fee, ihrer toten besten Freundin.
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals bei dem Gedanken an die Umstände ihres Todes. Und auch wenn ihr Blut nicht an meinen Händen klebte, war ich indirekt die Ursache, weshalb sie nicht mehr lebte.
Auch Ayla schien kurz in Gedanken zu schweben und kleine, glitzernden Tränen bildeten sich in ihren jadefarbenen Augen.
Mit dem Daumen strich ich über ihre Wange.
Einen tiefen Atemzug nehmend fuhr sie mit der Hand nach oben zu ihrer Steckfrisur. "Das ist eine Haarnadel, die ich meiner Mutter aus dem Schmuckkästchen genommen habe und irgendwann wieder zurückgeben werde."
"Ich wusste nicht, dass Geklaut Teil der Aufzählung ist."
"Geborgt. Ich gebe es ja irgendwann zurück", insistierte Ayla, dann verdunkelte sich ihr Blick. Ich kannte diesen Ausdruck nur zu gut. Jedes Mal, bevor wir es miteinander trieben, schlich sich diese dunkle Gier in ihre Augen.
Sanft öffnete sie den Schlitz des weißen Stoffes und hob ihn ein Stück an. Mit spitzen Fingern entblößte sie ihren Oberschenkel.
Zwei kleine blaue Pflaster klebten auf der Innenseite.
"Etwas Blaues", wisperte sie.
Ich biss mir auf die Lippe. Die leicht geöffneten Beine luden zu so viel mehr ein und für einen Moment war ich geneigt, den Termin beim Standesamt einfach abzusagen und Ayla zurück in unsere Wohnung zu ziehen. Auch wenn ich nicht das Bedürfnis hatte, unser Playcutting von vor zwei Tagen zu wiederholen, reizte sie mich immer noch wie am ersten Tag. Allerdings erinnerten mich die Schnitte in diesem Augenblick noch an etwas anderes. An andere Schnitte. An Schnitte, die ich nicht mehr tätigte.
Nicht mehr, seitdem ich beinahe mein Bein verloren und gestorben wäre, das Haus samt Keller verkauft und das schwarze lederne Buch verbrannt hatte.
Ayla schien meinen Stimmungswechsel zu bemerken. Sie lehnte sich sanft an mich, die Arme auf meine Schulter und bemüht, nicht mein lädiertes Bein zu streifen.
"Was beschäftigt dich?" Kurz klang sie verunsichert. "Hast du Zweifel?"
Ich umgriff ihre Hüfte und zog sie an mich. "Auf keinen Fall." Und es stimmte. Wenn ich mir einer Sache sicher war, dann dass ich sie nie wieder gehen lassen wollte. Nie wieder.
"Was ist es dann?" Aylas Stimme war ein Hauchen und sie musterte mich.
"Ich habe Angst", erwiderte ich ehrlich.
"Wovor?"
"Dass ich wieder rückfällig werde." Auch wenn das Bedürfnis aktuell nicht stark war, spürte ich es manchmal aufglommen. Wenn alte Erinnerungen meine Gedanken oder Träume streiften.
Aylas Fingerspitzen streichelten meine Wange. "Hast du mit der Therapeutin darüber gesprochen?"
Ich nickte. Ja, die Therapeutin. Es half. Natürlich offenbarte ich ihr nicht die komplette Wahrheit. Meine Taten von damals. Aber ich teilte mit ihr meine Sehnsüchten und ja, manchmal auch Vergangenes in Form von vagen Träumen, die mich plagten. Natürlich war es risikoreich gewesen mich nach den Ermittlungen an jemanden zu wenden und diesen Part von mir zu offenbaren – trotz Schweigepflicht. Zuerst hatte ich es auch nur getan, um Ayla milde zu stimmen. Immerhin hatte ich ihr nicht nur mein Leben, sondern auch den ersparten Weg in den Knast zu verdanken. Auch wenn ihre Geschichte löchrig klang, schien sie überzeugend zu sein. Ed, der Serientäter, und Ensel, der cholerische Ex-Polizist, der nicht mit dem Verschwinden seines Bruders zurechtkam. Beide lieferten so klare Bilder, bestätigt von ehemaligen Kollegen und Kolleginnen, dass sich alles zusammenfügte. Ayla, Famke und ich waren dabei nur die unschuldigen Opfer, die mit in das Ganze reingezogen worden waren. Für erstere Beiden stimmte das.
"Was hat sie gesagt?", fragte Ayla und riss mich aus meinen Gedanken.
"Wir arbeiten an Strategien, dass ich das Bedürfnis in den Griff bekomme." Ich hielt inne. "Und haben viel über meinen Vater gesprochen."
Ayla lehnte ihre Stirn gegen meinen Kopf. "Ich weiß, dass es nicht leicht ist, aber ich bin mir sicher, dass du das schaffen kannst."
Seufzend schloss ich die Augen. Ich hatte das nicht verdient. Diese zweite Chance. Ihre Vergebung. Irgendjemandes Vergebung. Vor allem nicht ohne Buße. Es gab ohnehin nichts, was das Geschehene gut machen konnte. Ich konnte nur dafür sorgen, dass es nicht noch einmal passierte.
"Außerdem habe ich manchmal Angst", sprach ich leise. "Dass, wenn ich die Erkenntnis darüber, was ich getan habe, reinlasse, mich vom Balkon schmeiße."
Aylas Finger krallten sich in meine Schulter. "Versprich mir, dass du das nicht tust."
Meine Schläfen zuckten. Ein großes Versprechen. Ich hatte ohnehin schon manchmal das Gefühl, dass mein Selbstwert mit jedem weiteren Schritt des Öffnens und Eingestehens zunehmend destabilisierte.
Ayla stupste mit der Nase gegen meine Wange, sodass ich sie ansehen musste. "Tut mir leid, das war zu viel verlangt. Ich weiß, wie schlimm es sein kann, wenn man sich seiner schlechten Taten bewusst wird und es ist am Anfang schmerzhaft und fürchterlich, wenn man sich dem stellt. Aber es wird auch besser. Unser Kopf hält solch einen Schmerz ja auch nicht dauerhaft aus. Du wirst vielleicht keinen vollständigen Frieden finden, aber einen, mit dem du leben kannst. Davon bin ich überzeugt."
Sanft strich ich mit meinen Lippen ihre. Sie erwiderte den federleichten Kuss, bevor sie sich löste.
"Und wenn du denkst, du kannst nicht mehr, dann bitte, bitte, Milan, sprich mit mir." Ihre Stimme klang flehend und für einen Augenblick verspürte ich den Drang, für immer in diesem jadefarbenen Meer zu versinken. Auch wenn es ein Wunsch fern der Realität war.
"Mache ich", wisperte ich. Wie konnte ich ihr jemals etwas abschlagen. Und vielleicht war es ja wie mit der Therapie. Zuerst hatte ich es als Gefallen ihr gegenüber getan, aber schnell gemerkt, dass es dabei nicht um sie ging, sondern es mir tatsächlich half. Zwar hatte sie bei zwei, drei Sitzungen dabeigesessen und zugehört, aber es war zu emotional für sie geworden. Außerdem musste sie ihren eigenen Weg finden, mit dem Geschehenen umzugehen. Wir stützen uns, aber mehr auch nicht. Und das war gut so. Denn Ayla konnte mich nicht retten. Nicht einmal die Therapeutin konnte es. Nur ich konnte es tun und dafür sorgen, dass ich nie wieder zum sadistischen Mörder wurde.
"Wollen wir?", fragte Ayla.
Noch einmal küsste ich sie, roch den lieblichen Duft von Jasmin und ihrer Haut. Ihre Finger vergruben sich in mein Haar und ihr Körper schmiegte sich an meinen.
Sanft schob ich sie vor mir her in Richtung Tür, während unsere Lippen sich nicht voneinander lösten.
Auf der Schwelle hielt sie inne und ein dunkles Glitzern durchsetzte ihre klaren, hellgrünen Augen. "Wobei wir bestimmt noch eine Viertelstunde haben, bis das Taxi kommt."
Ihre Hände umgriffen meinen Hemdkragen und sie zog mich ein Stück hinein in das abgedunkelte Wohnzimmer, um die sommerliche Hitze draußen zu halten.
Ich verstand sofort, worauf sie hinauswollte.
Mit einem Ruck hob ich sie hoch. Nicht weit, da meine noch immer heilenden Verletzungen und ihr enganliegendes Kleid einen Strich durch die Rechnung machten. Aber es war hoch genug, um sie bestimmten Schrittes hineinzutragen, während ihr Mund wieder meinen suchte. Und mit einem Mal war alles vergessen. Das Alte und Tote. Der Abend in einer Lagerhalle. Der Keller mit einer Pritsche.
All das war weggefegt bei dem Gedanken, dass die Vorstellung, für immer in ihr und dem jadefarbenen Meer zu versinken, vielleicht doch gar nicht so fern der Realität war.Ende
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Down our Darkest Paths
HorrorMan sagt, dünn sei die Mauer zwischen Liebe und Hass. Doch wieviel dünner ist sie zwischen Schmerz und Lust ... Als die junge Studentin Ayla in die Praxis von Doktor Degard reinstolpert, ist sie sofort gefesselt von dem attraktiven Arzt. Fast verges...