Kapitel 45

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Milan


Scheiße. Der Typ hatte eine größere Schmerzresistenz als erwartet. Eigentlich hätte ihn der Schlag auf die Kommode ausknocken sollen. Aber jetzt stand er vor mir. Mit gebrochener Nase und einem breiten Grinsen im Gesicht, das seine blutverschmierten Zähne entblößte.
"Jetzt mal ..." Ein feuchter Husten unterbrach seine Ansage. Er spuckte etwas von dem Blut auf den Boden und wankte benommen von einem auf den anderen Fuß.
"So jetzt mal schön die Klinge fallen lassen", zischte Ensel.
Ich tat wie befohlen. Es war nur eine der Klingen, die ich bei mir trug. Das andere Jagdmesser, das sich in Eds Schrank befunden hatte, befand sich in meiner Tasche. Jetzt brauchte es nur noch einen geeigneten Augenblick. Auch wenn Ensel den Schmerz in seiner Rage auszublenden schien, war er ordentlich lädiert. Seine Schulter war ebenfalls verletzt. Leider hatte die Klinge keine Sehne durchtrennt oder anderen größeren Schaden hinterlassen. Ich hätte besser zielen müssen. Doch der erneute Streifschuss, den ich von ihm kassiert hatte, hatte mir einen Strich durch die Rechnung gemacht.
"So, was is jetzt mit Ed?"
"Tot", sprach ich ruhig, auch wenn es mir innerlich einen Schauer durchjagte.
"Pff, am Arsch tot", entgegnete der irre Bulle. "Sag ihm, er kann sich das Schauspiel sparen."
Langsam wurde ich wütend. "Er ist tot. Falls du mir nicht glaubst, überzeug dich selbst."
Ein höhnisches Lachen erklang. "Genau, ich klettere hier durch und du schlägst mich wieder nieder. Biste bescheuert?"
Ich seufzte. "Gut, dann werden wir hier wohl ewig in dieser idiotischen Diskussion verharren."
Böse funkelte Ensel mich an und wedelte mit seiner Pistole herum, was mich für einen Moment hoffen ließ, er würde sie fallen lassen.
"Du bist n ganz schön arroganter Vollarsch. Hältst dich hier wohl für den Größten."
"Ich bin Arzt", gab ich schulterzuckend zurück.
"Ja genau, Herr Oberarzt, dann habeas corpus oder so. Rück den Körper rüber."
"Das ist wohl ein Scherz."
"Alter, bin ich einer deiner senilen Patienten. Du sollst die scheiß Leiche auf die Kommode hieven, damit ich sehen kann, ob ihr beiden mich nicht verarscht."
Ich rümpfte die Nase. Wenn er meinte ... Wobei ich für heute schon genug Leichen herumgetragen hatte. Widerwillig lief ich zu dem toten Körper meines Halbbruders. Ich wollte ihn nicht berühren. Seinen Leichnam. Aber ich musste. Außerdem war Ed nicht mehr da.
Tiefeinatmend hob ich ihn an. Er war schwer. Ohne Leichenstarre kaum zu bewältigen. Auch wenn er kleiner war als ich, wog er ein paar Kilos mehr. Meine Verletzungen taten ihr übriges. Dreimal entglitt er mir und segelte zu Boden, woraufhin Ensel genervt einen Warnschuss abfeuerte.
Mit einem Ächzen knallte ich den leblosen Körper auf den Tisch. Beinahe wäre auch ich zusammengebrochen. Mit allergrößter Mühe hielt ich mich noch auf den Beinen.
"Ach du Scheiße." Anscheinend war es nun auch dem miserabelsten Polizisten der Welt aufgefallen. Er packte Ed und zog ihn ein Stück zu sich.
"Aber Moment mal." Er musterte Eds toten Körper. "Dem ist doch die Kehle durchgeschnitten worden."
Ein ganz Cleverer.
"Sterbehilfe", murmelte ich, "weil er sonst elendig an inneren Blutungen gestorben wäre."
"Aha." Es war ein triumphaler Laut. "Das heißt eigentlich hast du ihn gekillt."
"Nachdem du ihn zwei Mal angeschossen hast", knurrte ich zurück.
"Pff, nicht mein Problem. Du konntest mal wieder deine Finger nicht vom Messer lassen."
Es juckte mich tatsächlich in den Fingern. Es juckte mich so sehr, ihm direkt jetzt mein verborgenes Messer in der Tasche in die Brust zu rammen. Aber ich hielt still.
"Schieb ihn rüber", forderte Ensel laut.
"Wieso?"
"Erstmal damit du auch endlich rüberkommen und dein Geständnis machen kannst. Und zweitens vielleicht überlege ich mir Arschloch Ed, jetzt wo er ohnehin tot ist, einfach auch mal in ein Fass zu werfen. Das wäre doch ein Zeichen des Schicksals."
Auch wenn es mich nicht stören sollte, weil Ed nicht mehr da war und von alldem nichts mitbekam, gefiel mir nicht, was ich hörte.
"Also zack, zack, Herr Doktor."
Schnaubend schob ich Eds Leiche nach vorne. Der Ex-Bulle packte sie und zog mit einer Hand ebenfalls am toten Körper. Plötzlich entglitt mir Eds Bein. Mit einem Poltern landete er auf der anderen Seite neben Ensel auf dem Boden.
Der grinste dreckig und deutete mit der Pistole auf mich. "Und jetzt du, Arschgeige."
Bemüht mich nicht auf mein lädiertes Bein aufzustützen, kletterte ich über die Kommode zu ihm herüber. In den Raum mit den Fässern. So standen wir als da – ganz so wie zu Beginn unseres desaströsen Treffens. Nur dass sich jetzt ein paar Leichen dazugesellt hatten.
"Und jetzt?", fragte ich, überlegend, wie ich ihn überrumpeln konnte.
"Bist du taub? Ich will ein Geständnis." Ensel fischte in seiner Jeanstasche nach einem Diktiergerät. Wie altbacken. Warum nahm er nicht sein Handy?
"Denkst du, das hat Bestand vor Gericht?"
"Schaden kann es nicht. Aber viel wichtiger ist, was hast du mit meinem Bruder gemacht? Und warum gerade er?" Seine Stimme wankte.
Vielleicht war das der Weg, ihn aus dem Takt zu bringen.
"Okay", gab ich nach. Mit gelassener Stimme begann ich zu erzählen. Von der Entführung auf offener Straße in Bahnhofsnähe, die zu seinem Pech so öffentlich, aber ebenso leer gewesen war, dass niemand da war, ihm zu helfen. Wie er sich gewehrt und gezappelt hatte. Dann erzählte ich ihm von der Pritsche.
Ich bemerkte, wie Ensels Schläfen zuckten. Es war bei all den Unterbrechungen in Form von Beleidigungen, die er mir entgegenschleuderte, gar nicht so leicht bei der Erzählung zu bleiben. Er hatte seine Wut nicht unter Kontrolle. Das war seine Schwachstelle. Schon die ganze Zeit. Ein Choleriker.
Als ich dann erwähnte, dass Finn kurz vor der Tortur "En-" gefleht und dann nach seiner Mutter gerufen hatte, knallte ihm endgültig die Sicherung durch.
Mit einem wütenden Schrei trat er gegen die auf den Boden liegenden Holzscheite. Für einen Moment war er gefangen, in seiner Wut und dem Schmerz. Es war mein Moment.
Rasch zog ich das Messer und stürzte mich auf ihn.
"Was ..." Er konnte gar nicht so schnell reagieren, wie ich ihn zu Boden geworfen hatte. Die Knarre löste sich aus seiner Hand und segelte ein gutes Stück davon.
Er versuchte mich mit geballten Fäusten abzuwehren, aber ich gewann die Oberhand. Das Messer festumgriffen stach ich mit voller Wucht zu.
Doch er fing meine Hand dich vor seinem Gesicht ab. Die Klinge schwebte nur wenige Zentimeter über seiner Nasenspitze, bewegte sich jedoch keinen Millimeter weiter. Er hatte Kraft. Zu viel Kraft. Aber eines war nicht auf seiner Seite. Die Schwerkraft.
Während ich auf ihm hockte, drückte ich das Messer mit aller mir noch verbliebenen Stärke nach unten. Er versuchte gegenzuhalten. Schweiß stand auf seiner Stirn, seine Finger zitterten, Blut quoll erneut aus seiner kaputten Nase. Stück für Stück senkte sich die Klinge.
Ich wähnte mich schon am Ziel, als ein plötzlicher Ruck mich umriss.
Ein Stöhnen entfuhr mir.
Ensel hatte nicht seine ganze Kraft in die Hände gesteckt. Sein Körper hatte sich aufgebäumt und mich zur Seite geschleudert.
Ich versuchte mich zu sortieren, aber da spürte ich einen wuchtigen Schlag auf den Hinterkopf.
Benommen kroch ich ein Stück nach vorne und sah aus den Augenwinkeln, wie Ensel zur Pistole robben wollte.
Blitzschnell stach ich zu. In seine Wade. Ensel schrie auf.
Doch statt schmerzhaft gekrümmt am Boden zu liegen, berappelte er sich und kroch auf mich zu. Ich spürte die Schläge, die wie von Sinnen auf mich einschlugen.
Es schleuderte mir die Klinge aus der Hand. Scheiße.
Mit beiden Händen schlug ich auf seine Ohren.
Er verpasste mir eine Kopfnuss.
Kurz wurde mir schwarz vor Augen. Da sah ich, wie er sich mit zitternden Armen nach vorne zog und ...
Fuck.
Seine Hände griffen nach der Kettensäge. Ich wollte von ihm weg, als das Blatt bereits zu rotieren begann und in meine Richtung schlug ...
Ein unfassbar höllischer Schmerz durchzuckte mich. Ich knallte mit dem Kopf nach hinten.
Er hatte mein Bein erwischt. Es war ein furchtbarer brennender, stechender, durchgehender Schmerz, den ich nicht in Worte fassen konnte.
Als ich nach unten sah, erblickte ich ein Meer aus Blut. Es breitete sich auf dem Boden aus.
Er hatte das Bein nicht abgesägt, aber der Schnitt reichte bis zu meinem Knochen. Da war ich mir sicher. Und ich verlor so viel Blut.
Die Kettensäge war mittlerweile ausgestellt. Ensel robbte wieder zur Knarre. Mir wurde beinahe schwarz vor Augen. Ich hatte verloren. Endgültig.
Doch da ertönte ein Knarzen. Wir beide schreckten hoch, als sich die Tür des Lagers einen Spalt öffnete.
"Milan?", erklang eine vertraute, unsichere Frauenstimme. "Bist du ..."
Die Stimmer erstarb durch einen markerschütternden Schuss und blankes Entsetzen fegte über mich hinweg.

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