Zwickmühle

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„Na los, frag mich doch endlich.", seufzt meine Mutter und legt das Besteck beiseite.

Die letzte halbe Stunde habe ich versucht, sie nicht mit Fragen wegen London zu löchern, ich habe immer noch ein schlechtes Gewissen, dass ich so damit raus geplatzt bin und sie überrumpelt habe. Doch Mama scheint meine Neugier bemerkt zu haben und ich zögere kurz bevor ich frage:

„Heißt dass, das wir vielleicht nach London ziehen?"

Ich weiß nicht, warum mir ausgerechnet diese Frage zuerst in den Kopf gekommen ist, immerhin steht es ja nicht mal fest, ob sie den Job bekommt, oder?

Meine Mutter zuckt mit den Schultern. „Das kann ich dir selber noch nicht sagen...aber es könnte gut sein. Warum, interessiert es dich denn gar nicht, wo ich mich zum Beispiel beworben habe? Oder warum?" Sie lacht amüsiert und nimmt einen Schluck von ihrem Wasser.

Ich tue ihr den Gefallen und frage deshalb nochmal: „Okay, geliebte Mutter. Wo und vor allem warum hast du dich beworben?"

Ich schiebe mir noch eine Gabel der köstlich schmeckenden Spaghetti in den Mund und warte auf ihre Antwort.

„Naja, also beworben habe ich mich bei einer kleinen Werbeagentur. Sie macht hauptsächlich Werbung für Events und ist in East London. Und Anne, meine Freundin von der Uni, ist dort die Chefin und hat mir den Job angeboten. Ich wollte euch mit den Neuigkeiten nicht gleich überfallen in London und habe eigentlich gedacht, dass ich vielleicht auch erst in ein paar Jahren dorthin wechseln würde..." Meine Mutter schaut mich fast entschuldigend an. „Aber der Job ist super bezahlt und liegt nahe an dem Haus. Ich habe auch in den letzen paar Wochen alles durchgerechnet, ob wir uns das überhaupt leisten könnten und so. Außerdem ist dort auch eine Mädchenschule in der Nähe, auf die Lilli, Nelli und du gehen könntet."

Das hört sich für mich schon nach einem ziemlich festen Plan an. Ich bekomme ein flaues Gefühl im Magen, wenn ich daran denke, dass wir vielleicht nach London ziehen. Nicht wegen der Stadt, ich finde London toll, aber ich weiß nicht, ob ich so einfach aus meinem Leben hier in Deutschland mit meinen Freunden gerissen werden kann um in eine riesige Stadt zu ziehen. Noch dazu die Schule. Ich müsste auf eine englische Schule gehen. Erst jetzt wird mir bewusst, wie viel mehr dieser Job auch auf mein Leben auswirken könnte.

„Von was hängt es denn eigentlich ab, ob du dort anfängst oder nicht?"

„Hm, also eigentlich nur noch von mir, ob ich den Job annehme oder nicht. Anne weiß ja, dass es besonders für euch nicht einfach werden würde, von hier wegzugehen." Mama dreht gedankenverloren den Verschluss der Wasserflasche in ihren Händen.

Ich muss zugeben, dass ich es langsam ein wenig Angst bekomme, was das angeht. Ich habe nicht gedacht, dass meine Mutter es so ernst mit der Sache meint.

Ein paar Sekunden schweigen wir beide und ich beginne, das Muster unseres Holztisches mit dem Zeigefinger nach zufahren. Hoch, runter, ein bisschen zur Seite. Brooklyn schießt mir durch den Kopf. Er sitzt jetzt bestimmt schon im Flugzeug. Ich habe zwar schon drüber nachgedacht, wie schön es wäre, ihn öfters zu sehen (und das könnte ich ja problemlos, würden wir in derselben Stadt leben), aber ich habe noch öfters darüber nachgedacht wie es wäre, meine ganzen Freunde hier nicht mehr zu sehen.

„Dein Vater müsste sowieso noch zustimmen.", sagt Mama plötzlich.

„Was?" Bei ihren Worten zucke ich zusammen. Wir reden nie über ihn und meine Mutter erst recht nicht.

„Ja, glaubst du denn, dass ich euch drei einfach mit ins Ausland schleppen kann, ohne seine Erlaubnis? Er muss zustimmen, immerhin hat auch er das Sorgerecht für euch."

Wieder breitet sich die unangenehme Stille über uns aus. Wir wissen beide, dass ich die Wiedersehen mit meinem Vater seit der Trennung meiner Eltern an zwei Händen abzählen kann und dass er so viel zu meinem Leben beigetragen hat, wie mein Hamster Henry, der nach genau 17 Stunden bei uns ausgebüchst ist, bevor er zum Opfer der Nachbarskatze wurde – nämlich gar nichts. Und dann sollte er ein Mitspracherecht haben, wenn es darum geht, wo wir hinziehen.

„So, ich räume jetzt mal den Tisch ab und deine Schwestern müssten auch bald heimkommen. Hast du heute Mittag was vor?" Meine Mutter steht auf und stapelt unsere leeren Teller aufeinander.

„Warte – ich habe noch eine Frage. Wenn du es jetzt sagen müsstest, also sieht es eher so aus, als würden wir nach London gehen, oder eher nicht?"
Sie denkt kurz nach, bevor sie mir mit fester Stimme antwortet: "Wir würden gehen."

Ich versuche, die ganze London-Sache mit Musik aus meinem Kopf zu bekommen. Ich will über sowas jetzt nicht nachdenken müssen. Ich will mir keine Sorgen machen, dass wir vielleicht umziehen. Ich fühle mich fast schon schuldig Brooklyn gegenüber, dass ich mich so gar nicht mit dem Gedanken anfreunden kann, in London zu leben. Allerdings habe ich einfach das Gefühl, dass ich da nicht hingehöre. Ich will zu Brooklyn, das ist keine Frage, aber ich will auch mein Zuhause nicht verlassen. Ich befinde mich in einer Art Zwickmühle, dabei ist noch nichts entschieden. Ich lache schon fast über mich und die vielen "Sorgen" die ich habe. Doch egal wie laut ich die Musik stelle, ich kann die Gedanken nicht vertreiben und so beschließe ich, Brooklyn zu schreiben.

Ich weiß, dass er im Flugzeug WLAN hat, immerhin sind das doch diese Luxus-Privatjets. Und ich habe Recht, denn fast sofort danach schreibt er mir zurück:

Hey, alles klar? xxx

Ich will ihm nichts von London erzählen, deshalb unterhalten wir uns einfach über dies das Ananas. Falls es nämlich doch so ist, dass wir nicht nach London gehen, will ich nicht, dass Brooklyn irgendwie enttäuscht ist. So verbringe ich den ganzen restlichen Montagnachmittag. Irgendwann um neun Uhr abends schreibt er mir, dass sie jetzt in ihrem Haus in LA angekommen sind, dort ist es jetzt gerade mal 12 Uhr mittags. Ich antworte ihm, aber es kommt nichts mehr zurück.

Auf Instagram sehe ich die vielen Bilder auf denen er markiert wurde, beim Verlassen von London und die Ankunft in LA. Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht, als ich Brooklyn sehe. Er hat Harper auf dem rechten Arm und sie vergräbt ihr Gesicht in seiner Schulter. Seine linke Hand hält er schützend über seine Augen. Erst denke ich mir nichts dabei, doch dann sehe ich ein anderes Bild, auf dem David ihn sanft an der Schulter packt und es sieht aus, als würde er Brooklyn mitziehen. David sieht angespannt aus und auch Romeo blickt fast ängstlich zu seinem großen Bruder. Brooklyn hingegen hält sich auf jedem Bild die Hand vor die Augen. Die Bildunterschrift macht mich stutzig:

"Poor Brooklyn, he looks sick. Hope you're alright babe"

Und dann dämmert es mir.

"...es waren so viel Paparazzi da..." "...ich habe einfach total Panik bekommen..."

"Also so wie eine Panikattacke?" "Es sind Panikattacken."

In mir dreht sich alles und mein Brustkorb zieht sich schmerzhaft zusammen, wenn ich daran denke, dass er wieder ein Panikattacke hatte. Dass er Angst hatte und nicht wusste was er machen sollte. Ich würde alles tun, um ihn davor zu bewahren, lieber würde ich an seiner Stelle stehen. Denn sowas hat niemand verdient und erst Recht niemand so in meinen Augen Perfektes wie Brooklyn.

Sofort schreibe ich ihm eine Nachricht, aber meine Finger zittern, sodass es zehn Anläufe braucht um "Brooklyn, ist alles okay? Ich mache mir Sorgen." einzutippen. Weil ich sowieso nicht mehr Einschlafen kann, liege ich bis um halb elf wach und warte auf seine Nachricht. Als mein Handy endlich das WhatsApp-Zwitschern von sich gibt, bin ich aber schon im Halbschlaf.

Woher wusstest du, dass ich es wieder hatte? , schreibt er. Ich nehme an, er meint die Panikattacke.

Ich hab Bilder gesehen und dachte dann daran, dass du mir davon erzählt hast...das tut mir leid. xx Wenn ich dir irgendwie helfen kann, sag's einfach. antworte ich Brooklyn.

Komm her. x , schreibt er und löst bei mir damit ein paar Tränen aus, die langsam über meine Wangen kriechen. Ich weiß nicht mal, warum ich weine. Wahrscheinlich wegen Brooklyn. Weil ich ihn vermisse. Wahrscheinlich wegen meiner Mutter und dem eventuell bevorstehenden Umzug. Weil ich hier doch nicht fort möchte. Aber am ehesten deshalb, weil es mir selber mehr weht tut, dass er wieder eine Panikattacke hatte, als ihm. Und weil es mir Angst macht, für einen Jungen solche Gefühle zu haben.

Head over Heels {Brooklyn Beckham}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt