Ich kann mich nicht rühren. Wie erstarrt stehe ich da, starre unbeweglich das an, was mir entgegenblickt. Meine Augen werden wässrig, doch ich blinzle die Tränen weg. Es ist nicht so schlimm wie ich es erwartet habe, es ist schlimmer. Meine Narben, die an sich sowieso schon schlimm ausgesehen haben, sind schwarz gefärbt, doch nicht so, als hätte jemand nur einen Strich gezogen. Sie fransen aus. Feine Adern begleiten die Narben in demselben Schwarz, bis sie sich verlieren. Mein Mundwinkel ist dunkel, als wäre Blut ein getrocknet und Äderchen liegen in einem Ein-Zentimeter-Radius um meine Narben, sodass sie wirken wie ein Netz. Da die letzte dieser beinahe bis zu meinem Auge reicht, haben sich die Blutgefäße in meinem Augapfel dunkel gefärbt, sodass die Hälfte des Weißens meines rechten Auges geschwärzt ist. Ich sehe aus, wie ein Zombie, eine lebendige Leiche. In Maze-Runner-Sprache, wie ein Crank im zweiten Stadium.
Pechnarben. Ich kneife meine Lider fest zusammen. Ich will mich nicht mehr sehen. Das ist widerwärtig. Wie können die anderen mich nur ansehen? Die Narben alleine waren schon nicht schön, aber man lernt eben, mit ihnen zu leben. Doch das ist die nächste, schlimmere Stufe. Der Komparativ des Grauens. Ich spüre, wie sich eine Träne löst und meine Haut hinunterrollt. Wie können sie den Anblick nur ertragen? Ich weiche vom Spiegel zurück. Ich hasse Spiegel! Oder nein, eher: ich hasse das, was der Spiegel zeigt. Ich presse meine Lippen zusammen, um ein Schluchzen zu unterdrücken. So hässlich, so hässlich. Und das Schlimmste ist, dass ich es nicht ändern kann. Wenn jemandem seine Figur nicht passt, kann er Sport machen und seine Ernährung umstellen. Wenn einem seine Frisur nicht passt, kann er zum Friseur gehen. Wenn jemandem seine Noten nicht passen, kann er sich hinsetzen und lernen, aber ich kann nichts gegen diese pechnarben, gegen dieses Etwas, das mir aus dem Spiegel entgegenblickt, tun.
Ich stolpere zu meinem Bett, lasse mich darauf sinken und vergrabe mein hässliches Gesicht in dem Polster. Meine Muskeln verkrampfen sich, meine Brust zieht sich zusammen und verdammt noch mal schon wieder, beginnen Tränen zu rollen. Warum hab ich in letzter Zeit andauernd Grund zum Heulen? Verdammt, Vorherbestimmung, das ist nicht fair! Selbst Toby hat sich vor mir erschrocken, als ich aus dem Wald gekommen bin. „Aber deine Freunde nicht.", flüstert eine leise, sanfte Stimme in mir. Ich wette, sie haben es einfach nicht zeigen wollen. Wie konnten sie mich nur ansehen und so tun, als wäre ich normal? Wie können sie dieses widerwärtige Etwas, das meinen Namen trägt, nur ignorieren?
Als ich entlassen werde, ist mein Selbstwertgefühl in den Minusbereich gesunken. Ich fühle mich als wäre ich verfault, als wäre ich verdorben. Die Kapuze meines Pullis tief in mein Gesicht gezogen, eile ich durch die Gänge, glaube hämisches Flüstern und abwertendes Lachen von überall her zu vernehmen. Sie wissen es auch. Sie sehen auch voller Abscheu auf das, was meine Kleidung verbirgt. Ich laufe unwillentlich schneller. Haste weg von den Stimmen. Von den gezischten „Scarfaces" und „Schaut euch den Krüppel an". Die nächste große Tür links. In die Ruhe der Bibliothek.
Mein Atem geht flach, meine Augen tränen, als ich in die nächstbeste, versteckte Regalreihe tauche, mich in die Welt der unzähligen Seiten stürze. Verzweiflung treibt mich durch dutzende Bücherstapel, Zeitungsansammlungen, Berichte. Ich suche nach dem, der mir das angetan hat. Nach der geschissenen Dämonin. Ich muss sie finden, mir selbst beweisen, dass sie real ist, mir beweisen, dass ich nicht doch ein vollkommenes Wrack bin. Mit Büchern beladen verlasse ich nach zwei Stunden die Bibliothek. Den Schutz der Stille. Doch die Gänge sind leer, verwaist. Es ist Nachmittagsunterricht, also werde ich kaum jemandem begegnen. Mit dennoch gesenktem Kopf eile ich so schnell ich kann, die unzähligen Stufen hinauf in den Schlafsaal und in meine Ecke im Aufenthaltsraum. An einen Ort, an dem ich mich halbwegs sicher fühle. An einen Ort, an dem ich mit meiner Suche beginnen kann. Ich beginne zu lesen, kritzle auf Papier. Im Laufe der Zeit, habe ich auch die Ansammlung an Tagespropheten, die sich auf meinem Schreibtisch befunden haben, gepackt und begonnen sämtliche Todesseranschläge und Vorfälle der letzten Wochen auszuschneiden. Der Stapel mit Notizen, Skizzen, Bildern und Zeitungsausschnitten häuft sich an. Fieberhaft überfliege ich die Seiten eines dicken Wälzers über unsichtbare Wesen, doch keine der Beschreibungen, die ich suche passt. Kurzer Hand räume ich die Bücher beiseite und schaufle mit den Händen mein Sammelsurium zusammen. Ich klettere mit Zauberband bewaffnet in meine Hängematte. Dort angekommen halte ich inne. Meine Augen fahren über die leere Schräge vor mir. Entschlossen greife ich nach dem Zauberband und einem Artikel und beginne, die Wand vor mir mit meinen Infos zu füllen. Nach und nach ist sie über und über beklebt mit Bildern und Texten, angeordnet, sodass ihre Information einender ähnelt. Hier und da sind Lücken frei. Als der letzte Artikel klebt, höre ich, wie eine Tür sich öffnet. Lachen und Geplauder. Schritte. Die Mädels. Ich nehme wahr, wie jemand die Leiter rauf kommt. „Emmi?", es ist Lilys Stimme, „Bist du da? Toby sucht dich."
Ich zucke zusammen. Nein. Nein, nicht jetzt. Er wird sich erschrecken. Mich verabscheuen. Er würde gehen, das weiß ich. Ich würde es sogar vielleicht auch. Ich räuspre mich, damit ich meine Stimme wiederfinde. Ich nehme einen tiefen Atemzug, mein Blick wandert zu der Wand vor mir, kurz huscht er hinaus aus dem Fenster. Die Sonne verschwindet, heute glanzlos, hinter der Kette der grünen Hügel der Ländereien. „Schick ihn bitte wieder weg", sage ich laut, mit beinahe fester Stimme, die so klingt, wie normalerweise, „ich hab grad keine Zeit." Ich höre, wie die Stimmen unterhalb verstummen. Ich kann fast vor meinem geistigen Auge sehen, wie Lily die Stirn runzelt. „Okay", sagt sie dann und ich kann hören, wie sie den Aufenthaltsraum wieder verlässt. Meine Augen beginnen wieder zu brennen.
oOo
Ich verlasse die Eulerei ohne den Brief, den ich meinem Bruder geschrieben habe. Ich weiß nicht warum, aber irgendwo musste ich meinen Frust loslassen und wo kann man das besser, als bei seinen Geschwistern oder Freunden? Ich seufze tief, als ich die schier endlosen Wendeltreppen hinuntereile. Toby habe ich in den letzten Tagen, Merlin sei Dank, nicht gesehen. Wie könnte er auch so etwas wie mich lieben? In meine Gedanken vertieft, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen gehe ich nach unten, beinahe abwesend, Stufe um Stufe. Und die Dämonin? Ich habe bis jetzt noch nichts gefunden. Wie kann das denn nur sein? Mena hat auch gesagt, dass sie die Typin gesehen hat, also warum konnte sie Nick nicht sehen? Ob es dem wohl schon besser geht? Die Verbrennungen waren ziemlich makaber. Ob er überlebt? Hoffentlich.
„Emily?", höre ich jemanden sagen und zucke erschrocken zusammen, sodass ich der Stufen hinunter stolpere. Ich drehe mich um und erkenne. „Pascal", sage ich, meine Stimme leicht zittrig. „Hey", er lächelt leicht, „Was machst du grad?" Ich gehe ihm ein kleines Stück entgegen, sodass wir beide in dem kleinen Gang stehen. „War in der Eulerei. Du?" „Naja, bin halt ein bisschen hin und her gegangen. Mir war langweilig. Wie läuft's mit dem Gitarre Spielen?" „Ganz okay", sage ich. Er seufzt: „Emily, nimm die doofe Kapuze ab. Ich gebe einen Doxymist drauf, wie dein Gesicht aussieht, aber es wäre schön, dich ordentlich ansehen zu können, wenn ich mit dir rede." Ich wende meinen Kopf ab, schlucke. Mit zitternden Fingern streife ich den Stoff des dunkeln Pullis zurück, sodass man mein Gesicht, das verabscheuenswerte Mal sehen kann. Seine Augen weiten sich leicht. „Autsch", lautet sein Statement. Ich zucke mit den Schultern. Bleibe stumm. „Emily?", fragt er nach einer Weile, „hast du deine Zunge verschluckt?" Ich schaffe ein schiefes Grinsen und erwidere scherzhaft: „Sei doch leise."
Just in diesem Moment höre ich weiter unten eine Tür aufgehen und eine erzürnte Minerva McGonagall rufen: „POTTER! BLACK!"
Registerkarte verrichteter Vergehen:
7.März.1975 James Potter, Sirius Black
Vergehen: Auberys Kopf, doppelte Größe
Strafe: Flubberwurmeiter in Flaschen füllen bei: Prof. H. Slughorn
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Glücksklee-grün wie die Hoffnung
FanfictionGLÜCKSKLEE-GRÜN WIE DIE HOFFNUNG 2. Teil der Karneolreihe/ Fortsetztung von Klatschmohn und Klatschmohnroter Sommer TEXTAUSZUG__„Dunkle Zeiten ziehen auf. Es kommen Tage, in denen wir Vertrauen und Loyalität brauchen um zu überleben. Und Entsch...