Kapitel 10

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Sebastian keuchte und verkrampfte sich in ihren Armen.
Er taumelte rückwärts; das Heft der Klinge ragte steil aus seiner Brust.
Seine Augen waren weit aufgerissen und einen Moment lang sah Clary darin den Schock angesichts ihres Verrats - Schock und Schmerz.
Und dieser Augenblick bereitete ihr selbst Schmerzen: Schmerzen tief in ihrem Inneren,
an einer Stelle, die sie für begraben gehalten hatte, ein Ort,
wo sie um ihren Bruder trauerte, der er vielleicht hätte sein können.
~City of Heavenly Fire~

Jonathan

Benebelt lag ich auf dem verkohlten Boden. Neben mir die Überbleibsel der beiden Thronsessel.
Ihre goldenen Verzierungen waren ebenfalls verkohlt und geschmolzen
Meine Brust schmerzte fürchterlich, als wäre sie auseinandergerissen worden. Mein Blick schweifte zu einer Person, die einige Meter entfernt von mir stand, doch ich konnte kaum etwas erkennen.
Irgendetwas hatte sich verändert, aber was?
Das Letzte an das ich mich erinnerte war, dass ich gebrannt hatte... in keinem gewöhnlichen Feuer, nein.
Das Himmlische Feuer, es hatte mich vollkommen umhüllt und ausgebrannt.. aber noch lebte ich?
Unerwartet sah ich IHR Gesicht über dem Meinen und ich konnte nicht verstehen, warum stumme Tränen über ihre verschmutzten Wangen liefen.
Sie hasste mich, meine eigene Schwester. Clarissa hatte mich schon immer gehasst.
Aber trotzdem hatte ich daran glauben wollen, dass ein Teil von ihr mich akzeptierte.
Das Blut dicker war als Wasser. Nur dieses eine Mal.
Nein, das war es nicht. Sie hatte mir Eosphoros Klinge in die Brust gerammt.
Mich ausgetrickst, so leicht... Wie hatte ich mir diesen Fehler erlauben können? Warum hatte ich es nicht geahnt? Oder hatte ich es geahnt und war zielstrebig auf meinen eigenen Abgrund zugerannt?
Ihre roten Haare hingen in ihrer verschwitzten Stirn, schwarze Schlieren zierten ihr Gesicht und ihre grünen Augen blickten mich fasziniert und bestürzt zugleich an.
„Sebastian...", murmelte sie entsetzt.
„Nein. Der bin ich nicht mehr. Ich bin... Jonathan.", flüsterte ich angestrengt. Die Worte waren einfach so über meine Lippen gekommen, aber sie fühlten sich vollkommen richtig an. Und dann wusste ich, was anders war. Ich.
Ich war ich selbst. Kein Gift floss mehr durch meine Adern.
Meine Gedanken wurde von keiner unsichtbaren Macht gelenkt.
Ich war frei und doch war es zu spät.
Mein Atem rasselte in meinen Lungen und ich wusste das hier war das Ende.
Diesmal würde mich keiner zurückholen können.

Nach Luft schnappend, fuhr mein Körper aus dem Schlaf.
Wütend fuhr ich mir durch meine Haare, ich hasste diese Träume!
Diese Erinnerungen, sie waren überall. Ich konnte sie nicht vergessen und immer wieder kaute mein Unterbewusstsein die vergangenen Zeiten durch.
Am schlimmsten waren die Morde, das Abschlachten der vielen Menschen. Schattenjäger, Werwölfe, Hexenmeister... So viele Leben hatte ich auf meinen Gewissen und es kam nicht klar damit.
Es war so als wollte es mir nicht verzeihen und auch ich konnte mir nicht verzeihen.
Neben mir hörte ich Zoey atmen.
Sie war vor einigen Stunden völlig entkräftet ins Bett gefallen, nachdem ihr Anfall ganze 20 Minuten angedauert hatte.
20 verdammte Minuten in denen ich versuchte irgendwie beruhigend auf sie einzureden.
Ich und beruhigend... Kopfschüttelnd schob ich die warme Bettdecke beiseite.
Sport, entweder würde ich einen Schlüssel an der Rezeption bekommen oder ich würde mir einfach mit der Stele selbst Zutritt verschaffen.

Keine 5 Minuten später hämmerten meine Fäuste auf den Boxsack ein.
Die junge Frau an der Rezeption hatte mir natürlich den Schlüssel gegeben für die Fitnessräume, zusammen mit ihrer Handynummer. Diese hatte ich im Trainingsraum achtlos in den Mülleimer geworfen.
Mein Fuß landete gezielt auf das schwarze Leder des Boxsacks und er schwang leicht vor und zurück.
Immer wieder trat und schlug zu, bis ich merkte, wie ich mich langsam entspannte.
Wie die Wut aus mir herausfloss.
Die Wut auf mich selbst.
Am Anfang hatte es nicht funktioniert, aber mittlerweile wurde es besser.
Training half mir meine Gedanken zu ordnen.
Etwas was ich früher ebenfalls nicht gebraucht hatte.
Ich hatte immer einen kühlen Kopf bewahrt.
Zwar gehörte Wut und Hass zu meinen alltäglichen Gefühlen dazu, doch es hatte sich immer anders angefühlt.
Berechenbar, kühl und distanziert. Selten hatte es an der Oberfläche gebrodelt.
Nach dem Vorfall kochten sie jedoch regelrecht über und zwar alle Gefühle.
Schuld, Wut, Mitleid, Trauer, sie wurden zu ständigen Begleitern...

Das zweite GesichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt