Das zweite Gesicht

Kapitel 32

"Das ist alles meine Schuld.", sagte Charlotte leise.
"Ich hätte nicht versuchen sollen, sie zur Schattenjägerin zu erziehen,
wo sie diese Vorstellung doch so offensichtlich und
von ganzem Herzen verabscheute."
"Nein. Nein, das stimmt nicht!", beeilte Henry sich, seiner Frau zu versichern.
~Clockwork Prince~

„Fuck mein Herz...“, entfuhr es mir und ich zuckte erschrocken zusammen. Jonathan setzte sein Weg einfach fort, da er sofort erkannt hatte, dass es sich nur um Jessamine handelte, die jetzt neben mir her schwebte und uns neugierig beäugte. Angeber... Er hätte mich ja ruhig mal vorwarnen können.
„Wenn ihr zur Bibliothek wollt, solltet ihr jetzt den Gang links runter.“, meinte sie nur und wiederholte ihre Frage von eben. Jonathan bog wortlos ab, checkte nebenbei die Umgebung ab, als hätte er das Gefühl, das jeden Moment ein anderer Schattenjäger auftauchen würde.
Tja mein Herz war ja eigentlich gar nicht solch schlechte  Antwort auf Jessamines Frage gewesen. Unsicher blickte ich in ihr Geister-Puppengesicht und zuckte mit den Schultern. 

„Ich bin krank.“, meinte ich schlicht, hoffte sie dadurch zufriedenzustellen. 
„Oh.“, entfuhr es ihr, obwohl es gar nicht so bedauernd klang. „Was hast du?“  
Innerlich seufzte ich genervt auf. 
„Herzinsuffizienz.“, antwortete ich knapp und blickte über Jonathans Schultern. Hier sah es immer noch alles nach einem großen Schloss aus, statt einer ehemaligen Kirche. Ob die Schlafzimmer hier wohl auch so urig aussahen? 

„Herz... was? Was soll das für eine Krankheit sein?“, fragte sie neugierig und schwebte einmal einen schnellen  Kreis um uns herum. Mir wurde schon beim Zuschauen schlecht. „So was ähnliches wie eine Dämonenblutvergiftung? Jem hatte damals sowas, furchtbar... er war so kränklich.“ Jem? Ich hatte keine Ahnung von was sie da sprach und schaute sie nur irritiert ein. „Nein, es ist eine Herzschwäche. Ich kann mittlerweile überhaupt nichts Anstrengendes mehr machen. Früher hab ich gerne Sport gemacht.“, erklärte ich und beobachtete wie Jessamine mich leicht geschockt anschaute.

„Aber Sport gehört sich doch nicht für eine richtige Dame. Und du bist doch keine Schattenjägerin, also musst du auch nicht kämpfen lernen.“ Jonathan schnaubte nur abfällig. Oh je wann war sie nochmal gestorben? 1878 gab es vermutlich einfach andere gesellschaftliche Vorstellungen davon was sich für eine Frau geziemt und was nicht... Witzig, dass gerade sie als Schattenjägerin so daran hing? 
Aber andererseits hätte ich sie auch nicht als Schattenjägerin erkannt, da sie (abgesehen vom Geist sein) keine sichtbaren Runen trug und ihr pompöses Kleid, nicht danach aussah, dass es einen Kampf überleben würde.
„Nun ja Treppensteigen ohne einen Herzinfarkt zu bekommen, wäre schon nicht schlecht.“, meinte ich zynisch und hoffte das Thema damit endlich abhaken zu können.
Vielleicht sollte ich ihr einfach eine Frage stellen?

„Uh ja da vorn die große Tür, da gehts zur Bibliothek.“, meinte sie plötzlich und schwebte im Zickzack aufgedreht durch den Flur. „Sag mal kannst du eigentlich auch durch Wände schweben?“ 
Sie räusperte sich empört und schaute mich wütend an. „Na ... du weißt schon, weil du ein Geist bist?“ Sie stemmte ihre Hände in die Hüfte und schwebte höher zur Decke, sodass ich meinen Kopf tief in den Nacken legen musste. „Und? Nur weil ich ein ‚Geist‘ bin, heißt das nicht, dass ich keinen Anstand habe.“, fauchte sie wütend. 
Oha. Ich spürte wie der Schattenjäger unter mir lautlos vor Lachen bebte. Na toll, war ja klar, dass er sich darüber amüsiert. 
„Tut mir Leid, war nur neugierig. Hätte ja sein können, dass du es schon mal ausprobiert hast. Ich stell mir das ziemlich cool vor.“ 
„Cool?“, hakte sie wütend nach und ehrlich gesagt, war ich mir nicht sicher ob sie die Bedeutung des Wortes ‚cool‘ überhaupt kannte. „Es geziemt sich nicht für eine Dame durch Wände zu laufen. Entschuldigt mich, bitte.“ Und schon war sie davon gerauscht, na ja geschwebt. Jonathan setzte mich grinsend vor der großen Doppeltür ab und strich sich durch seine blonden Haare.