Kapitel 27

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Als sie den Hydepark betraten, spürte Tessa,
wie die Anspannung allmählich von ihr abfiel.
Seit ihrer Ankunft in London hatte sie kein ruhiges grünes Felckchen
mehr zu sehen bekommen und fast widerstrebend musste sie sich eingestehen,
dass sie der Anblick der Bäume und Wiesen sehr erfreute, 
obwohl es ihrer Meinung nach keine Grünanlage der Welt mit dem Central Park in
New York aufnehmen konnte.
~Clockwork Angel~

Seltsam. 
Das war das Gefühl, was es am Ehesten beschrieb.
Ich ließ mein Blick über meine alten Möbel wandern, der Schreibtisch mit den ganzen alten Schulsachen, das ungemachte kleine Bett mit der roten Bettwäsche, der weiße Kleiderschrank und der runde durchgetretene dunkelgraue Teppich in der Mitte des Raumes. 
Es war fast so, als wäre ich nie weg gewesen, da alles noch genauso war, wie ich es vor dem Spaziergang zurück gelassen hatte. Ich hatte ja nicht vorgehabt einfach zu verschwinden und ich erinnerte mich daran, dass ich eigentlich vorgehabt hatte am Abend noch Mathe Hausaufgaben zu machen.
Verrückt.

Wie lange ich war ich jetzt nicht mehr hier gewesen?
3 Wochen, 4 Wochen oder doch länger?
Ich hatte keine Ahnung. Mittlerweile war es Dezember und es würde vermutlich nicht mehr lange dauern, bis der erste Schnee fiel. 
Einerseits kam mir dieser Tag, an dem ich zum ersten Mal wirklich die Dämonen hatte wahrnehmen können vor, als wäre er gestern gewesen, aber andererseits hatte ich auch das Gefühl, dass so unendlich viel passiert war. Mein Blick blieb an dem Kleiderschrank hängen.
Würde es auffallen, wenn ich ein paar Kleidungsstücke von mir mitnehmen würde?
Es sah nicht so aus, als hätte mein Vater dieses Zimmer nach meiner ungeplanten „Abreise“ überhaupt betreten.
Oder aber ich konnte ihn mir einfach nicht vorstellen, wie er hier stand und nachdachte. 

Es hatte ihn verändert, meine Geburt, meine Mutter, die uns verlassen hatte.
Vielleicht war er ja wirklich mal der Mann gewesen, wie sie ihn in ihrem Tagebuch beschrieben hatte. Innerlich hoffte ich das. Es schmerzte, dass im Grunde ich daran Schuld war, dass er sein Herz verloren hatte. Genauso verloren, wie seine Ehefrau. 

„Willst du irgendwas mitnehmen?“, fragte mich nun auch Jonathan, sah sich jedoch nur kurz und scheinbar desinteressiert in meinem kleinen Reich um. Seit unserem Gespräch tat er alles um seine vorherigen Wände wieder hochzuziehen, aber ich bemerkte sehr wohl, wie schwer ihm das Ganze fiel.
Zielstrebig ging er zum Fenster und sah nach Draußen auf die Straße. Er erinnerte mich in diesem Moment an mich selber, wie oft hatte ich auf dem schmalen Fensterbrett gehockt und nach Draußen gestarrt hatte.

Es war als würde ich mich als Geist durch dieses Zimmer gehen sehen. Der Geist von mir tat all die Dinge, die ich früher oft gemacht hatte. Er saß am Schreibtisch lustlos über den Hausaufgaben gebeugt, oder er lag im Bett mit einem Buch in der Hand. 
„Ja, vielleicht.“, murmelte ich und trat unsicher zum Bett.
Aber was? Kleidung, Andenken, Fotos?
Wo war nochmal mein Koffer gewesen?
Würde es zu viel Lärm machen? Würden wir ihn damit vielleicht aufwecken?
War er überhaupt zu Hause?
Aber warum sollte er nicht hier sein... es war komisch ihm so nahe zu sein und trotzdem nicht zu sehen.

Was würde mein Vater denken, wenn er das nächste Mal das Zimmer betreten würde?
Ich hatte das Gefühl, wenn ich meinen Koffer packen würde, würde ich ihn endgültig verlassen und ehrlich gesagt wusste ich nicht, ob ich das konnte.
Auch wenn er nie der herzensgute Mensch gewesen war, den meine Mutter in ihn gesehen hatte. Er war immerhin mein Vater gewesen. Er hatte es trotzdem geschafft mich irgendwie großzuziehen.
Langsam setzte ich auf mein leicht quietschendes Bett und starrte auf den kleinen Holztisch mit der leicht schrulligen Stoff-Nachttischlampe mit Fransen. Dann zog ich die immer noch klemmende Schublade auf.

Dort lag es.
Das kleine Buch mit dem schwarzen Stoffeinband.
Ihr Tagebuch.
Ich glaube, mein Vater wusste es. Wusste, dass ich eines Tages danach gesucht hatte und es entwendet hatte.
Aber er hatte sich nichts anmerken lassen. Er war manchmal echt der perfekte Stein gewesen, wenn auch relativ mürrisch für einen Stein. Ich spürte den dunklen Blick von Jonathan auf mir, aber im Zimmer blieb es still.
Mit meinen Fingern strich über den Stoff, es beruhigte mich ihn zu spüren.
Das hier war ein Teil meiner Familie, irgendwie verdrehterweise spendete mir dieses Buch Trost, auch wenn es eigentlich traurig war. 

Das zweite GesichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt