Kapitel 9

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Tief in Sebastians Augen blitzte irgendetwas auf und Clary
verspürte wieder dasselbe Unbehagen wie in dem Moment,
als er sie geküsst hatte:
das plötzliche Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte,
grundlegend nicht stimmte - als hätte sie einen Schritt nach vorne gemacht,
in der Erwartung, auf festen Boden zu treffen.
Doch stattdessen schien sie in einen Abgrund zu stürzen.
~ City of Glass~

„Warum habe ich eigentlich keine Mama?", fragte die 6-Jährige und blickte ihren Vater erwartungsvoll an. Dieser war in einer Zeitung vertieft und trank seine Tasse Tee.
Er hatte braunes Haar, welche unordentlich in seine Stirn fielen.
„Dafür bist du noch zu jung, um es zu verstehen.", murrte er nur und kratzte sich am Bart.
Das Mädchen ließ sich seufzend auf einen Stuhl nieder.
„Dad ich bin 6. Ich bin jetzt in der Schule und..." „Ich will in Ruhe Zeitung lesen, geh irgendwas spielen.", unterbrach er sie wirsch, ohne jedoch aufzublicken.
„Irgendwann musst du es mir sagen.", sagte sie beleidigt und verschwand mit Tränen in den Augen in ihr Zimmer.

Seufzend setzte ich mich auf und verfluchte meine Erinnerungen. Ich wollte nicht an sie denken und auch nicht an ihn. Meinen Vater. Wir hatten nie ein wirkliches gutes Verhältnis zueinander gehabt. Eigentlich hatten wir gar keins. Ich war da und er war da. Wir lebten zusammen, mehr nicht. Wie Roboter, selbst als meine Diagnose kam, bekam ich keine Reaktion von ihm. Als wäre es ihm gleichgültig. Was er wohl jetzt gerade tat? Hatte er mich vermisst gemeldet? War ich ihm wirklich egal oder vermisste er mich vielleicht sogar?
Das war doch sinnlos, es brachte mir überhaupt nichts darüber nachzugrübeln.
Ich sollte mich auf andere Sachen konzentrieren, zum Beispiel, dass ich heute früh die letzten Tabletten aus der Dose geangelt hatte.

„Ich muss in eine Apotheke.", sagte ich also bestimmt und verschränkte meine Arme vor der Brust.
Ich saß auf dem Hotelzimmerbett und Jonathan auf dem Sofa in eins der Bücher vertieft.
Ohne aufzublicken, zog er seine eine Augenbraue hoch und meinte: „Apotheke?"
Ich nickte und sagte: „Ja du weißt schon, diese Läden wo Mundies ihre Medikamente herbekommen, damit sie wieder gesund werden."
In den letzten paar Tagen hatte ich fleißig im Codex gelesen und konnte mir nun vorstellen, dass Schattenjäger kaum auf Medizin und Medikamente angewiesen waren. Sie hatten ihre Heilungsrunen, die Stillen Brüder oder Hexenmeister, die sie gesund machten.
„Ich weiß was eine Apotheke ist.", murrte er kühl und blickte endlich von dem Buch auf.
Sein Blick glitt dabei musternd über mich, sodass ich unwohl meine Finger in die Decke unter mir vergrub.
„Die Frage ist warum du dort hin willst.", wieder einmal war seine Stimme rau und ich konnte nicht anders als ihn zu betrachten. Ich könnte ihn stundenlang ansehen. Er war schön, seine kantigen Gesichtszüge, seine vollen Lippen, dazu die dunklen Augenbrauen und die hellblonden Haare.

Wieder wanderte seine Augenbraue in die Höhe, da ich noch immer nichts gesagt hatte.
Trotzig verschränkte ich abermals meine Arme vor der Brust und sagte: „Ich brauch halt was." Ok das klang vielleicht ein bisschen zu schnippisch.
„In Ordnung.", sagte er knapp und wollte sich wieder in sein Buch vertiefen.
„Nein du verstehst das nicht ganz.", meinte ich hastig und setzte mich gerader hin. „Ich brauche dafür deine Hilfe und... also... wir müssen dort einbrechen, sozusagen. Ich hab gelesen, dass es einige Runen gibt, wie die Entriegelungsrune und ja ..." Ich stoppte mein Gehaspel, da ich überrascht das leichte Lächeln bewunderte, was nun seine Lippen umspielte. Doch so plötzlich und zaghaft es gekommen war, desto schneller war es wieder verschwunden.
„Ok, in einer Stunde gehen wir los."

Erleichtert atmete ich die angestaute Luft aus und beobachtete, wie Jonathan wieder seinen Kopf zum Buch gesenkt hatte. Interessiert betrachtete ich die Runen auf seinen Händen, Armen und die am Hals, die unter sein weißes T-Shirt hervor lugten.
Er hatte vorhin eine neue Rune auf seinen Unterarm aufgemalt, bevor er mit Lesen angefangen hatte.
Interessiert griff ich nach dem Codex, der auf meiner Betthälfte lag und blätterte zu den gesuchten Seiten.
Es dauerte ein wenig bis ich die Rune gefunden hatte, denn viele sahen sich ähnlich und so genau hatte ich sie mir dann doch nicht eingeprägt. Umso verwunderter war ich nun, als ich sah welche Rune es war.

Das zweite GesichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt