Kapitel 47

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"Denkst du, dass du mir verzeihen kannst? Ich meine, glaubst du,
dass für jemanden wie mich Vergebung überhaupt möglich ist?"
"Keine Ahnung." Clary klammerte sich an die Tischkante. 
"Ich... ich kenne mich mit Vergebung nicht so aus, also mit dem reliogösen Konzept
der Vergebung; ich weiß nur über die herrkömmliche Versöhnung Bescheid, 
wenn Leute jemanden verzeihen." Sie stockte und holte tief Luft;
ihr war bewusst, dass sie unzusammenhängendes Zeug plapperte. 
Vermutlich lag das an Sebastians unverwandten Blick, 
als erwartete er von ihr die Antworten auf Fragen, die niemand anderes beantworten konnte.
"Ich weiß, dass man etwas dafür tun muss, um sich Vergebung zu verdienen. 
Sich selbst verändern. Gestehen, Reue empfinden - und Buße tun."
~City Of Lost Souls~


Mit einem leisen Quietschen öffnete sich die dunkle Holztür nach Innen. 
„Tja und hier ist das zweite Schlafzimmer. Das Bett ist kleiner, also wenn du lieber das große...“ „Nein, nein, ist schon ok. Ich nehm das Zimmer“, unterbrach ich Clary und ließ mich probehalber auf das Bett sinken, welches etwas knarzte. Die Einrichtung war ziemlich alt und sehr schlicht, aber in diesem Haus würden wir wohl erst einmal einige Zeit bleiben. Clary hatte mir erzählt, es wäre das Haus von Lukes Schwester, was teilweise schon an Ironie grenzte, da Amatis die erste Erdunkelte von Jonathan gewesen war. Aber man hatte beschlossen, dass wir beide vorerst hier wohnen sollten, da das Haus eh ungenutzt war. Müde schaute mich in dem Zimmer um.
Es war relativ klein und es gab ein Einzelbett, ein Kleiderschrank, ein Schreibtisch, ein Bücherregal und einen Kamin. Die Möbel waren in einem dunklen Holz gehalten und der Bettbezug war dunkelgrün. Er erinnerte mich unweigerlich an ein Paar gewisse grüne Augen. 

Clary stand noch immer in der Tür und knetete unschlüssig ihre Hände. Nach einigen Sekunden der Stille ließ sie sie sinken und meinte: „Ok, ähm dann, lass ich dich erst einmal... richtig ankommen.“ Als sie leise die Tür hinter sich schloss, griff ich seufzend nach Jonathans und meiner Reisetasche, welche auf dem Holzboden stand. Es war mir ein Rätsel woher sie diese aufgetrieben hatten und ehrlich gesagt konnte ich mich nicht einmal mehr erinnern, wann wir das letzte Mal die Tasche in der Hand gehabt hatten. 
Als ich die Tasche öffnete, bemerkte ich, dass man Jonathans Sachen entfernt hatte und nur noch die wenigen Kleidungsstücke von mir dort drin waren. Ich packte die Sachen aufs Bett neben mir und zögerte kurz, als ich abermals in die Tasche griff, harte Kanten und den bestimmten Stoff des Einbands spürte. 
Langsam zog ich das Tagebuch meiner Mutter aus der Tasche und hielt es in meinen Händen. Ich konnte es nur eine ganze Weile anstarren. 

Ich erinnerte mich daran, wie ich dieses Buch zwei Jahre in meiner Nachttischschublade versteckt hatte und es erst am Tag meiner Diagnose aufschlagen konnte. Dann erinnerte ich mich an dem Tag, wo Jonathan und ich in London gewesen waren. Wo wir bei meinem Vater gewesen waren und ich das Tagebuch in meinem Zimmer liegen gesehen habe. Wie ich Jonathan gefragt hatte, wie er es schaffte? Wie er es schaffte mit dem Selbsthass zu leben... Und wie er mir einen Tag später in dem Waffenladen geantwortet hatte, dass er es nicht weiß. Ich wusste noch wie wir uns danach angiftetet hatten, dass weder er, noch ich mit der Schuld leben sollten, weil wir nicht daran Schuld waren. Dass Valentine ihn vergiftet hatte und meine Mutter wegen der Krankheit gestorben war und nicht, weil ich geboren worden war. Ich erinnerte mich daran, wie verdammt schnell mein Herz geschlagen hatte und wie nah wir uns gewesen waren, nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Denn Jonathan hatte mir all seinen Schmerz gezeigt. Ich hatte alles in seinen Augen sehen können. Wie er zugegeben hatte, dass er jetzt nicht nur Hass fühlen wurde, sondern auch andere Gefühle hatte. Andere Gefühle, die ihm Angst machten. Angst, die uns wiederum menschlich machte. Ich hatte ihm erzählt, dass ich ebenfalls Angst hatte und er war verwundert gewesen, dass ich mich nicht vor dem Tod fürchtete, sondern noch eher vor Würmern. Ich konnte mich an alles erinnern, schließlich waren nur Tage vergangen und trotzdem fühlte es sich seltsam fern an. 
Seufzend legte ich das Tagebuch auf den Nachttisch und schnappte mir einige frische Kleidungsstücke, Zahnbürste und Duschzeug. Ich wollte dringend diesen ganzen Dreck von den vergangenen Tagen abwaschen. 

Das zweite GesichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt