3. Nacht ist besser als Tag

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 Seit dem Krieg mochte Harry die Nacht lieber, als den Tag.

Weil sie keinen Schlaf brauchten, saßen Louis und er häufig gemeinsam auf der breiten Fensterbank in ihrem Zimmer und blickten hinaus in die Dunkelheit. Manchmal spielten sie dabei "Ich sehe was, was du nicht siehst", wobei Harry meist gewann, denn seine Augen waren deutlich besser, als die von Louis. Er erkannte Käfer, die sich in den Ritzen der Baumstämme verbargen, während Louis lediglich die Rinde erkannte. Den Vorwurf, er würde schummeln, hörte Harry daher fast jedes Mal, doch er wusste, dass Louis das niemals ernst meinte, selbst wenn er immer verlor.

Die Nacht hatte noch einen weiteren positiven Effekt: in der Dunkelheit sahen die Gebäude der Stadt wieder so aus, wie früher, als Harry noch ein Mensch gewesen war.

Als seine Mum und sein Stiefvater noch gelebt hatten.

Manchmal, wenn er sie ganz schrecklich vermisste, kramte er ein verblichenes Foto heraus und sah es sich stundenlang an. Das Bild wurde in einem Buch aufbewahrt, denn die Farbe verblich schnell. Die Fotos, die Louis von seiner Familie besaß waren noch deutlich zu erkennen, obwohl sie so viel älter waren. Mit dem Foto schien es Harry, würde eine Erinnerung an seine Mutter immer weiter vergilben. Wenn er lange genug auf das Bild gestarrt hatte, gelang es Harry sogar manchmal, sich Annes Stimme in Erinnerung zu rufen. Auf seinem alten Smartphone hatte er noch viele Videos von ihr gehabt, doch seit es nur noch sehr wenig Strom gab, konnte er das Gerät nicht mehr nutzen. Ehrlich gesagt, war er sich nicht einmal sicher, ob es nach 150 Jahren überhaupt noch funktionierte. Schließlich waren Handys doch immer nach spätestens 3 Jahren kaputt gewesen.

Wenn die Sehnsucht nach Anne zu groß wurde und Harry es kaum noch aushielt, zog es ihn nach Orchard Brae Gardens, der Straße, in der er gelebt hatte, bevor er zum Vampir geworden war.

Nachdem das Haus mehreren Familien nach den Styles noch ein Zuhause gewesen war, stand es nun schon seit einigen Jahrzehnten leer. Die Wände waren mit den Jahren feucht geworden und der Garten verwilderte immer mehr. Doch egal, wie das Haus auch aussehen mochte, sobald Harry durch die Eingangstür trat, schien sich das Haus vor seinem geistigen Auge wieder in seine Heimat zu verwandeln.
Erinnerungen und Gerüche kamen ihm wieder in den Sinn und wenn Harry sich dann auf den Weg zurück zur WG machte, fühlte er sich deutlich gestärkter und mutiger.

"Hazza, woran denkst du?" Louis Hand strich ihm durch die Locken und holte ihn so in die Gegenwart zurück. Harry war so tief in Gedanken gewesen, dass er Louis erst nach mehrmaligem Blinzeln wieder vor sich erkennen konnte, der ihn aus strahlend blauen Augen erwartungsvoll ansah. "Ich habe gerade an meine Mum gedacht. Das ist schon lange nicht mehr so intensiv passiert. Ich konnte fast schon ihre Stimme hören." Louis seufzte und beugte sich vor, um ihm einen Kuss zu geben, dann sagte er tröstend: "Die Sehnsucht wird niemals ganz vergehen. Ich bin jetzt schon 325 Jahre alt und ich wünsche mir immer noch ab und zu, meine Mum in den Arm nehmen zu können. Und die Sehnsucht sorgt dafür, dass wir nie ganz die Erinnerung an die Menschen verlieren, die uns so wichtig sind." Harry schmiegte sich an Louis und murmelte: "Ich bin wirklich froh, dass ich wenigstens bei dir für immer bleiben kann."

Sie umarmten einander fest und Harry ließ sich mit Louis gemeinsam vom Fensterbrett hinunter auf das Bett fallen. Sie landeten ziemlich hart und der Aufschlag wurde auch sogleich von den Nachbarn unter ihnen mit einem Klopfen an die Decke beanstandet. Selbst nach so langer Zeit in dieser Wohnung hatten sie immer noch Nachbarn, die mit dem Besenstiel an die Decke klopften, wenn sie sich nicht ganz still verhielten.

Sie langen noch eng aneinander gekuschelt auf dem Bett, als die Tür aufflog und Liam hereingestampft kam. "Ich weiß schon, wieso ich nicht mehr mit Zayn zusammen bin", schimpfte er und warf die Arme in die Luft, "er macht mich manchmal einfach nur wahnsinnig!" Harry und Louis tauschten Blicke. Dieses Szenario kannten sie. Es kam fast täglich vor, dass sich Liam bei ihnen über Zayn beschwerte und meist ging es dabei um Nichtigkeiten. "Was ist es denn dieses Mal?", fragte Harry mit gespielter Neugier und setzte sich auf, um Liam interessiert ansehen zu können. Louis gähnte demonstrativ und fing sich dafür von Liam einen bösen Blick ein. "Erst durfte ich seine Platten icht benutzen- "

"Du meinst scratchen", fuhr Louis grinsend dazwischen, doch Liam fuhr fort: "und nun hat er mir auch noch verboten, sein Grammophon zu benutzen, mit der Begründung, die Nadel würde stumpf werden, wenn man sie zu oft benutzt." - "Das tut sie auch und die werden nicht mehr hergestellt, Liam." Zayn war nun auch wieder aufgetaucht und lehnte sich mit verschränkten Armen lässig im Türrahmen an. Liam wollte gerade den Mund aufmachen, um seinem Ex noch etwas entgegen zu schießen, als Harry die Hand hob und sich aufrichtete. Er hatte Stimmen gehört, zwar noch weit entfernt, aber schon jetzt war deutlich zu erkennen, dass es wütende, laute Stimmen waren, die etwas riefen.

"Was hast du Harry?", fragte Louis beunruhigt und sah ihn an. "Ich höre Menschen...klingt wie eine Demonstration", sagte er und lauschte weiter. Stampfende Füße auf dem dunklen Stein der Straße. "Es ist mitten in der Nacht, wer sollte zu dieser Zeit demonstrieren?" Alle vier lauschten. Der Streit wegen der Grammophonnadel schien vergessen. Bewegungslos standen sie am Fenster und konzentrierten sich auf die Geräusche von draußen.
Nach und nach erreichten die Stimmen auch die Ohren der anderen und Harry war sich nun sicher, sie sich nicht eingebildet zu haben. Jetzt war auch deutlich zu verstehen, was die Menschen riefen.

"Tötet sie!"

"Verbrennt sie!"

"Vernichtet die Vampire!"

Langsam hoben alle die Köpfe und sahen einander an. Harry musterte seine Freunde und stellte fest, dass in ihren Gesichtern keine Angst zu lesen war. Auch er selbst fühlte sich vollkommen ruhig.

Lag es daran, dass er wusste, dass man ihn nicht so schnell töten konnte? Oder lebte er einfach schon zu lange, als dass man sich nicht so schnell einschüchtern ließ? "Ich glaube, die kommen her", stellte Zayn fest, drückte die Nase an die Scheibe und sah hinaus in die Dunkelheit. Seine dunklen Augen huschten hin und her und er beschrieb ihnen, was er sah: "Wenn ich mich nicht täusche, dann bewegt sich ein kleiner Mob auf uns zu." Louis zuckte mit den Schultern: "Ach mit denen werden wir fertig", sagte er und winkte ab. Einzig Liam schien unruhig zu werden und sah zwischen dem Fenster und seinen Freunden hin und her. "Wollen wir nicht abhauen? Die werden uns aufknöpfen." Zayn schüttelte den Kopf und sah nochmal nach Draußen. "So schnell passiert das nicht", murmelte er und fuhr sich entspannt mit der Hand durch die dunklen Haare. "Außerdem geht doch nichts über einen ordentlichen Kampf. Das hatten wir schon lange nicht mehr."

Alarmiert sah Liam Zayn an: "Hast du gerade Kampf gesagt?" Mit ernstem Blick nickte Zayn und sah nochmal aus dem Fenster hinaus auf die Straße. Viele Straßenlaternen gab es nicht und die wenigen, die standen, waren Gaslaternen. Sie mussten jede Nacht von Hand angezündet werden und spendeten nicht sonderlich viel Licht. Doch die Jungs hatten gute Augen, fast wie Katzen und sahen gut genug. "Da kommen Menschen", murmelte Louis und öffnete das Fenster.

Umzug mit Folgen IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt