34. The old Wellington

1.5K 281 33
                                    

Je näher sie dem Stadtkern von Manchester kamen, desto besser kannte Harry sich aus. Vertraute Häuser tauchten auf und in seinem Kopf wurden Erinnerungen wach, die bisher weit hinten in seinem Bewusstsein geschlummert hatten. Harry hatte ganz vergessen, dass sie noch in seinem Kopf waren.

Als sie die Shoppingmeile betraten, in der sich früher die Massen getummelt hatten, und in der auch Harry häufig eingekauft hatte, fanden sie eine leere Straße vor. Zwar sorgten Harrys Erinnerungen dafür, dass hier wieder alles lebendig wurde, doch natürlich blieben die Schaufenster leer. Manche waren mit vergilbten Zeitungen beklebt, sodass man keinen Blick hineinwerfen konnte. Es war schon Abend und bald würde die Sonne ganz untergegangen sein. Die wenigen Leute, die noch unterwegs waren, schienen alle auf dem Heimweg zu machen. In der Einkaufsstraße standen auch noch einige Verkaufswagen, deren Fronten gerade von ihren Besitzern hochgeklappt wurden. Seit es keinen Strom mehr gab, gingen die Menschen ins Bett, wenn die Sonne untergegangen war. „Fast wie im Mittelalter", hatte Eve einmal gesagt, als Harry diese neue Angewohnheit der Menschen bemerkt hatte. „Ich finde es ganz gut, dass sie sich nicht mehr die Nächte um die Ohren schlagen", hatte Adam gesagt: „Ich erinnere mich noch an die 2000er Jahre. Damals war es echt heftig. Die Menschen waren so lange wach, weil sie durch so viele Dinge vom Schlafen abgehalten wurden, dass sie nicht mehr in der Lage waren, kreativ zu sein. Sie kamen nicht mehr zur Ruhe. Wenn man sich Bilder aus dieser Zeit ansieht, oder Bücher liest, die damals geschrieben wurden, kann man das sehr gut erkennen. Alles wirkt so hektisch und oberflächlich. Also wenn ihr mich fragt, dann ist es ein Segen für uns, dass es keinen Strom gibt."

Diese neue Angewohnheit der Menschen kam ihnen nur zugute, denn so waren die Straßen nicht ganz so voll und sie mussten sich nicht den Gerüchen der Menschen aussetzen. Unwillkürlich musste Harry daran denken, dass er Menschenblut getrunken hatte und fragte sich, ob seine Freunde vielleicht auch ihre Prinzipien über den Haufen geworfen und einen Menschen angezapft hatten. Harry wünschte es sich beinahe, denn er hatte große Angst davor, dass sie ihn verurteilten, sollten sie es herausfinden.

Während sich die Straßen immer schneller leerten, gingen Adam, Eve und Harry weiter. Sie passierten zwei Lebensmittelgeschäfte und eine Änderungsschneiderei, dann bogen sie um eine Ecke und schließlich fanden sie sich auf einem Platz wieder, der mit alten Gebäuden gesäumt war. Hier hatte es früher viele Pubs gegeben und an den Wochenenden war sicherlich die ganze Nacht gefeiert worden.

Jetzt gab es nur noch einen Pub. „The old Wellington" befand sich in einem Fachwerkhaus aus weißem Stein mit dunklen Holzbalken. Aus den Butzenfenstern fiel warmes Licht hinaus auf das Kopfsteinpflaster. Über der Eingangstür war eine Tafel angebracht, auf der die Eckdaten des Gebäudes standen.

Die drei Neuankömmlinge legten die Köpfe in den Nacken und lasen. „Erbaut 1552...", hauchte Eve und blickte Adam verträumt an: „...das war eine schöne Zeit damals, weißt du noch?" Dabei lehnte sie sich an Adams knochige Schulter, der genauso verträumt auf die Jahreszahl blickte. Wieder einmal fühlte Harry sich in ihrer Gegenwart wie das fünfte Rad am Wagen und wünschte sich Louis herbei. Adam und Eve waren so eng miteinander verbunden, hatten so viel zusammen erlebt, dass er niemals dazugehören würde, denn 900 Jahre waren nicht aufzuholen, egal wie lange er noch mit ihnen unterwegs sein würde. Allerdings hoffte Harry sehr, dass er nicht so lange darauf warten musste, Louis wieder zu finden. Um den beiden klar zu machen, dass er auch noch da war, sagte Harry: „Los, lasst uns reingehen. Wir erregen noch mehr Aufmerksamkeit, wenn wir hier mitten in der Tür stehen bleiben." Er legte die Hand flach auf das dunkle Türblatt und drückte sie auf. Seine Begleiter wurden aus ihrer Erinnerung gerissen und folgten ihm.

Die mit Alkoholdämpfen getränkte Luft erfüllte den Raum und empfing sie, gepaart mit lautem Stimmengewirr. Das Pub war proppenvoll und am schmalen Tresen der Bar drängten sich viele Männer, um etwas zu bestellen. Weil alles besetzt war, stellten sie sich in eine Ecke und beobachteten die Gäste, die an den Tischen saßen, lachten und tranken, Karten spielten und sich nicht darum scherten, dass drei Vampire unter ihnen standen. Adam hatte den Arm locker um Eves Schultern gelegt und ließ den Blick gelangweilt schweifen. Seine Augen wurden von seinen dunklen Haaren verdeckt und so fiel nicht auf, dass er in aller Ruhe nach einem geeigneten Opfer suchte.

Harry hatte während dessen andere Sorgen. Ihm war aufgefallen, dass er hier mit Abstand der Jüngste Gast zu sein schien. Immerhin steckte er noch immer im Körper eines 17 Jährigen und durfte sich mit Sicherheit um diese Uhrzeit nicht mehr in einem Pub aufhalten. Tatsächlich war er von einigen Männern am Nebentisch bereits misstrauisch ins Auge gefasst worden und drehte sich rasch weg, sodass sie aufhörten, sein Alter zu schätzen. Harry wollte Adam und Eve gerade auf seine Situation aufmerksam machen, als sich eine kräftige Hand auf seine Schulter legte. Er drehte sich schnell um und blickte einem älteren Mann ins Gesicht. Unrasiert und mit fehlenden Zähnen, wirkte er ziemlich ungepflegt, doch der Blick mit dem er ihn bedachte, war besorgt. „Junge, es ist schon sehr spät. Du solltest um diese Uhrzeit nicht hier sein. Mach dich lieber davon, bevor du der Pubaufsicht auffällst", raunte er ihm zu und nickte zur Bar hin, wo ein bulliger Kerl lehnte, der Harry bisher noch nicht aufgefallen war. Die Arme vor der Brust verschränkt, ließ er den Blick durch das Pub streifen und nippte ab und zu an seinem Bier, das neben ihm auf dem Tresen stand. „Wieso ist er ein Aufpasser?", fragte Harry und wagte noch einen Blick in seine Richtung. Der Mann zuckte die Schultern: „Nun, früher gab es Überwachungskameras, aber ohne Strom muss man eben wieder auf menschliche Augen zurückgreifen. Seitdem er hier den Aufpasser spielt, sind die Taschendiebstähle deutlich zurückgegangen. Und Jugendliche wie du wagen es auch nicht mehr das Pub zu betreten. Er ist da ziemlich streng. Also versuchst du dich am besten davonzumachen, bevor er....oh, er hat dich bemerkt." Harry fuhr herum und sah, dass der Aufpasser sich zwischen den Menschengruppen hindurch in seine Richtung schob - den Blick dabei direkt auf ihn geheftet. „Jungchen! Du hast hier um diese Uhrzeit nichts mehr verloren! Mach dass du rauskommst!", sagte er mit dröhnender Stimme und augenblicklich wurde es im Pub still. Alle Aufmerksamkeit lag nun auf Harry und dem bulligen Kerl. „Aber ich bin mit den beiden hier...", versuchte Harry sich herauszureden und deutete auf den dunkelhaarigen Vampir und seine Freundin. „Es kümmert mich nicht, ob du in Begleitung bist, Junge. In deinem Alter gehörst du nicht in einen Pub." Und mit diesen Worten packte er Harry am Kragen und zerrte ihn recht grob zur Tür. Natürlich hätte er sich wehren und den Mann mit einem Handgriff umwerfen können, doch er durfte sich nicht verraten, sonst wären sie aufgeflogen. Also gab Harry den wehrlosen Jungen und ließ sich in hohem Bogen aus dem Pub werfen.

Der Aufpasser hatte ihn mit einer solchen Wucht nach Draußen befördert, dass er stolperte und sich beim Sturz auf dem Kopfsteinpflaster die Hände aufschürfte. Als er sich wieder aufgerappelt hatte, sah er seine Handflächen an: er blutete, allerdings nicht so stark, wie er es als Mensch getan hätte. Bisher hatte er sich als Vampir noch nie verletzt und fand diesen Umstand äußerst interessant – obwohl er gerade aus einem Pub geflogen war, was nicht unbedingt nötig gewesen wäre. Harry klopfte sich seufzend den Staub von der Hose und wandte sich den erleuchteten Fenstern des Pubs zu, den er nicht mehr betreten durfte.

Adam und Eve würden sicherlich drinnen bleiben, um sich einen Blutspender zu suchen. Harry beschloss, vor dem Pub auf die beiden zu warten, denn etwas besseres hatte er jetzt sowieso nicht zu tun, also lehnte er sich an die Hauswand gegenüber und behielt die Tür im Auge.

Umzug mit Folgen IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt