41. Die Mülldeponie von London

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„Richard, wie schön, dich zu sehen", Eve stand auf und wurde von dem Vampir umarmt. Er küsste sie auf die Wangen und musterte sie. „Du siehst müde und hungrig aus", stellte er fest und strich ihr über die Haare. Auch Adam hatte sich erhoben und umarmte den Vampir, klopfte ihm auf die Schulter. „Wir haben noch Jemanden mitgebracht", sagte Adam und wies auf Harry. „Das ist Harry. Wir haben uns in einem Pub getroffen." Der Vampir trat auf Harry zu und reichte ihm die Hand: „Hallo Harry. Freut mich sehr, dich kennenzulernen."

Richard war kleiner als Adam, hatte graues Haar, das er halblang trug. Sein Bart war dicht und er hatte die Spitzen des Oberlippenbartes nach oben gezwirbelt. Seine Kleidung war eine Mischung aus allen möglichen Epochen. Das Hemd schien aus den 1980er Jahren zu sein, die Hose aus dem vorherigen Jahrhundert. Er sah aus, wie ein wandelndes Geschichtsbuch der Mode, dachte Harry.

„Was treibt euch nach London?", erkundigte sich der Vampir und Harry wollte gerade den Mund aufmachen, als Eve ihm das Wort abschnitt: „Wir würden gerne erst ein wenig schlafen. Wir waren den ganzen Tag über auf den Beinen." Richard nickte und wies auf das Mädchen, das sich bis dahin diskret im Hintergrund gehalten hatte: „Lottie kann euch ein Zimmer zuweisen. Wollt ihr vorher noch etwas essen?" Beide nickten und Richard wandte sich an Lottie: „Bring Adam und seine Frau bitte in die zweite Etage und schicke Lucy zu ihnen." Lottie nickte und ging die Treppe hinauf. Adam und Eve folgten.

Harry jedoch blieb zwischen den Sessel stehen. Verwirrt blickte Richard ihn an: „Du willst wohl nicht schlafen? Immer dasselbe mit euch jungen Leuten." Er grinste und es war ein freundliches Grinsen, dass ihn Harry sehr sympathisch machte. „Nein, ich kann jetzt nicht schlafen...ich bin nach London gekommen und meinen Freund zu suchen. Wir wurden in Edinburgh getrennt und ich habe das Gefühl, dass er hierher gekommen sein muss. Deswegen kann ich mich jetzt nicht hinlegen und schlafen." Er sah Richard erwartungsvoll an und fragte dann schüchtern: „Könnte es vielleicht sein, dass drei Jungs bei Ihnen untergekommen sind?" Es wäre wunderbar, wenn Louis, Liam und Zayn vielleicht hier im Gebäude wären und in Harry baute sich eine Hoffnung auf, die zerplatze, als Richard den Kopf schüttelte. „Nein, ich habe außer euch momentan keinen Gast. Tut mir wirklich leid Harry."

Geknickt nickte er und verfluchte sich im selben Moment, weil er sich ein wenig naiv ausgemalt hatte, Louis vielleicht hier im Gebäude wieder zu treffen. Aber wenn er nicht hier war, dann würde er sich jetzt eben auf den Weg zum Globe Theater machen. Als er Anstalten machte zu gehen, hielt Richard ihn am Arm fest. „Wohin willst du gehen?", fragte er „London ist nicht überall sicher."

„Ich muss zum Globe Theater. Das ist eine wichtige Verbindung für Louis und mich und ich hoffe, dass er dorthin kommt, sollte er wirklich in London sein." Richard warf einen Blick auf die Uhr: es war schon 18 Uhr. „Harry hör zu; London hat sich verändert. Du wirst es sehen, wenn du zum Südufer gehst. Es gibt nur noch zwei Brücken über den Fluss und sie wurden auf der Südseite abgerissen, sodass man nicht herunter auf den Erdboden kommen kann." Harry wollte das nicht hören; jede Sekunde, die er länger hier blieb, verlor er und das wollte er nicht zulassen. Ruckartig wollte er sich losmachen, doch Richard packte ihn noch fester, drückte ihn in einen Sessel und stützte sich rechts und links auf die Armlehnen ab, sodass Harry nicht aufstehen konnte. „Ich lasse dich gleich gehen. Aber ich sehe es an meine Pflicht an, dich zu warnen, wenn ich weiß, in welches Gebiet du dich begeben willst, also höre mir zu Harry. Es ist zu deiner eigenen Sicherheit. Also, wirst du mir zuhören?" Richard war Harry so nahe gekommen, dass sie einander beinahe an der Nase berührten und Harry nickte schließlich. In Richards Augen war zu sehen, dass er es ernst meinte und ihn wirklich nur warnen wollte. „Gut...was ist in London passiert?", fragte er und seine Stimme zitterte ein wenig. Er hatte Angst von dem, was Richard erzählen würde.

Jetzt, wo Harry eingewilligt hatte, zuzuhören, ließ Richard die Hände sinken und setzte sich in den Sessel gegenüber, ohne Harry dabei aus den Augen zu lassen. Dann holte er tief Luft und begann zu erzählen: „Vor einigen Jahren gab es einen Brand auf der Südseite. Dort waren die Gasreserven gelagert und so gab es eine Menge Explosionen, was das Feuer schnell ausgebreitet hat. Erst die Themse hat den Flammen Einhalt geboten. Alles ist niedergebrannt und heute stehen dort nur noch Ruinen. Auch dein Globe ist nicht mehr da. Nur noch die Grundmauern stehen heute. Es kamen damals über 50.000 Menschen ums Leben." Richard hielt inne, als würde er den Toten gedenken und fuhr dann fort: „London hat nicht die technischen Mittel, die Südseite wieder aufzubauen. Es war nicht möglich und als sich dann auch noch Krankheiten ausbreiteten, fand man eine neue Möglichkeit, diesen Teil Londons zu nutzen. Du musst wissen, dass es nahezu keine Gesundheitsversorgung gibt, wenn man von den paar Frauen mal absieht, die Kräuter zusammenmischen und so versuchen, kleinere Gebrechen zu heilen. Wer krank ist, ist krank und wenn man Glück hat, kommt man wieder auf die Beine. Vor einigen Jahren haben sich Syphilis, Typhus und andere ansteckende Krankheiten ausgebreitet und um sie einzudämmen, hat London ein neues Gesetz erlassen. Wer krank ist, wird auf die Südseite abgeschoben. So wird verhindert, dass sich andere Menschen anstecken. Jeder Bewohner der Stadt ist dazu verpflichtet, einen Kranken zu melden, denn natürlich würde niemand freiwillig auf die Südseite gehen. Dort zu leben kommt einem Leben in der Hölle gleich, denn es gibt nur wenige Häuser und Lebensmittel sind auch verdammt knapp. Drüben befindet sich auch eine Mülldeponie und ich vermute, dass sich die Menschen dort ihre Nahrung herausklauben...wenn sie denn überhaupt noch dazu imstande sind. Die Kranken werden abgeholt und mit Gewalt über die Brücke gebracht, wo man sie hinunterwirft wie Abfall. Keinem Menschen ist es bisher gelungen, über die Brücken zurück zu kommen. Ich weiß nicht, ob du es weißt, aber wenn ein Vampir einen Menschen beißt, der eine schlimme Krankheit hat, dann..." Harry unterbrach Richard und sagte: „..dann bekommt er eine Blutvergiftung. Das habe ich schon gelernt." Der alte Vampir nickte: „Ich erzähle es dir deshalb, damit du dort keine Menschen beißt, solltest du überhaupt welche zu Gesicht bekommen. Wenn du Hunger hast, dann trinke hier noch etwas, um zu verhindern, dass es dich drüber überkommt." Harry nickte hastig und sagte nichts.

Die Vorstellung, dass Kranke aus ihren Familien gerissen und auf der anderen Seite mehr oder wenige „entsorgt" wurden, schockierte ihn. Niemals hätte er gedacht, dass die Menschen sich wieder in eine solche Richtung entwickelt hatte.

Mit einem Mal kam ihm ein Gedanke, der ihn aufspringen ließ: „Louis weiß nichts von dieser Gefahr! Ich muss sofort los. Wenn er dort drüben sein sollte und Hunger bekommt, dann könnte er sich vergiften!"

„Pass auf dich auf, Harry und nimm das hier mit." Richard ging zu einem hölzernen Globus, den Harry anfangs für Dekoration gehalten hatte, öffnete ihn und nahm ein schmales Röhrchen Blut heraus. Eine Minibar für Vampire. Harry steckte das Röhrchen ein, bedankte sich hastig, riss dann die Tür auf und stürzte wieder hinaus auf die Straße. Er musste so schnell wie möglich ans Themsenufer kommen, eine intakte Brücke finden und hinüber auf die andere Seite.

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Jetzt scheint Harry auf der richtige Fährte zu sein, oder? Zumindest sind sie beide in London, da sollten sie sich doch langsam mal finden.

Umzug mit Folgen IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt