16. Oxenfoord Castle

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"Jetzt sag schon, wieso du dich vorhin so gefreut hast?"

Adam verdrehte die Augen, schien aber leicht amüsiert zu sein. Sie waren nun schon fast an ihrem Ziel angekommen und Harry löcherte Adam schon seit Stunden mit ein- und derselben Frage. Eve amüsierte sich prächtig darüber und sie sagte irgendwann: "Liebling, jetzt spann ihn doch nicht so auf die Folter. Er kann es doch erfahren." Sie lächelte Harry an und wandte den Blick dann wieder dem Horizont zu, wo die Sonne langsam aufging.

Weiches Licht strahlte über die Landschaft und brach sich in dem Nebel, der noch auf den Wiesen lag. In der Ferne war die Burg bereits zu sehen. Adam gähnte: "Wird Zeit, dass wir ankommen. Ich bin hundemüde." Harry sah ihn an: wollte er seine Frage nicht beantworten, oder genoss er es, um eine Antwort angebettelt zu werden? Vielleicht gefiel es ihm aber auch nur, ihn auf die Folter zu spannen.

Die blonde Vampirfrau schien über Harry nachgedacht zu haben, denn sie sagte: "Wenn Harry Williams Fähigkeiten bekommen hat, dann lass uns einfach rennen. Er wird gut mit uns mithalten können, Adam." Gesagt getan: die drei rannten los und für Harry war das eine ganz neue Erfahrung. Er war es gewohnt, der mit Abstand Schnellste zu sein, doch in der Gesellschaft seiner neuen Gefährten musste er sich ziemlich ins Zeug legen, um wenigstens nicht allzu weit zurück zu fallen. Eve und Adam waren so dermaßen schnell, dass sie innerhalb weniger Minuten am Oxenfoord Castle ankamen, obwohl sie bei normalem Thempo sicherlich noch eine Stunde gelaufen wären.

Scharf abbremsend kamen sie vor dem Gebäude zum Stehen und blickten die Steinfassade hinauf.
Die Burg war groß, hatte mehrere Türmchen, Balkone und Fenster mit weißen Rahmen. Eine schmale Treppe führte zu einem Erker, doch als Harry Anstalten machte, die Tür zu öffnen, hielt Eve ihn zurück: "Ich glaube, wir suchen uns einen anderen Weg hinein."
"Wieso?" Adam seufzte und lehnte sich gegen die Wand. "Nur zu, erklär es ihm, Eve. Wir haben ja den ganzen Tag Zeit und sind auch überhaupt nicht müde." Eve seufzte, als würde sie Adams Verhalten entschuldigen wollen und wandte sich dann an Harry.

"Hast du dich mal mit dem Vampirmythos beschäftigt?", fragte sie und als Harry den Kopf schüttelte, fuhr sie fort: "Wenn ein Mensch von einem Vampir verwandelt wird, überträgt dieser seine Fähigkeiten auf ihn. Allerdings werden diese von Mal zu Mal schwächer. Als ob man ein Papier kopiert und dann die Kopie kopiert und so weiter. Obwohl auf allen Papieren dasselbe steht, wird die Schrift immer unleserlicher. So ist es auch bei uns. Die Fähigkeiten verkümmern von Vampir zu Vampir immer mehr."
"Ja, das hat mir mein Freund Louis schon erzählt. Aber worauf willst du hinaus?", fragte Harry und lehnte sich an die Fensterscheibe an. Eve fuhr fort: "Genau, wie die Fähigkeiten verkümmern, werden auch die negativen Eigenschaften schwächer. Vielleicht hast du schon einmal davon gehört, dass Vampire ein Haus nur betreten können, wenn sie eingeladen werden?" Davon hatte Harry noch nie gehört und er schüttelte rasch den Kopf.

Adam ging die Erklärung von Eve offenbar nicht schnell genug, denn er mischte sich nun ein: "Eve und ich sind noch alt genug, um über dieses Manko zu verfügen. Wenn wir durch ein Dach in ein Haus klettern, geht es leichter, als wenn wir eine normale Tür benutzen. Deswegen sollten wir nicht unbedingt durch dieses Fenster das Haus betreten." Jetzt verstand Harry endlich und nickte: "Na gut, dann suchen wir einen anderen Weg hinein. Ich könnte aber auch einfach durch diese Tür gehen und euch hereinbitten. Das ginge doch auch, oder?"

Mit dem Daumen deutete er auf die Tür und Adam schien kurz nachzudenken. Langsam nickte er und sagte: "Daran habe ich nicht gedacht. Gut, dann lass es uns so machen." Harry war sich nicht sicher, ob er es sich einbildete, doch er glaubte, in Adams Stimme einen Hauch Anerkennung gehört zu haben.

Die Klinke ließ sich nur schwer öffnen, doch nach einigem Rütteln hatte Harry es geschafft. Der Rahmen kratzte über den Boden und es gab einen ganz unangenehmen Quietschton, als die Tür aufschwang.

Er setzte einen Fuß über die Schwelle und spürte dabei die Blicke der beiden Vampire im Rücken. Sie schienen es kaum glauben zu können, dass er ein Haus einfach so betreten konnte. Doch es war eine einfache Sache und Harry hatte nicht das Gefühl, von einer unsichtbaren Macht zurückgehalten zu werden und sah sich um.

Der Boden war aus Holz, doch teilweise hatte man die Dielenbrette entfernt. Einige Möbel standen noch herum, aber sie waren alle beschädigt. Stühle, aus deren Sitzpolster das Füllmaterial quoll, Tische mit nur drei Beinen und krumme Regale in denen die Reste eingestaubter Bücher lagen.
Harry trat an die Bücher heran und strich mit dem Finger über die verstaubten Buchrücken. Das Licht von Draußen hatte sie ausgebleicht und die Schrift war kaum noch zu lesen.

Jemand räusperte sich und Harry drehte sich um. Mit ausdruckslosen Gesichtern, blickte ihn das Paar von Draußen an. "Würdest du uns bitte mal reinbitten? Ich will ins Bett." Mit seinen schlanken Fingern trommelte Adam gegen den weißen Holzrahmen. "Verzeihung. Kommt doch bitte rein." Endlich konnten auch die beiden eintreten.

"Oh, wie schön es hier ist", seufzte Eve und sah sich das heruntergekommene Zimmer an. "Ja, schade nur, dass man es so verkommen hat lassen. Ich vermute, die Dielen wurden herausgenommen, um damit etwas anderes zu bauen. Genau wie ich vermutet hatte. Lasst uns mal nachsehen, wie der Rest so aussieht." Adam stieg über die Löcher im Boden hinweg und in der Holzwolle, die unter den Dielen lag und vermutlich einmal als Dämmung gedient hatte, raschelte eine Maus davon. Harry sah sie gerade noch in einem Spalt verschwinden, dann folgte er Adam durch eine Flügeltür in den nächsten Raum. Eve blieb bei den Büchern stehen und nahm einige davon heraus, als sei sie in einem Bücherladen. Ihre Augen glänzten beim Anblick der beschriebenen Seiten glücklich.

Das nächste Zimmer war ein großer Saal. Auch hier befanden sich kaum noch Möbelstücke und ihre Schritte hallten von den Wänden wieder. Auf dem Fußboden lag eine dünne Staubschicht und sie hinterließen Fußspuren, als sie in die Mitte des Saales gingen.

Das Sonnenlicht fiel durch die hohen Fenster und weil es so viele davon gab, war es richtig hell. An der Decke war Stuck angebracht, dessen goldene Farbe abgeblättert war. Adam legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf an den Stuck: "Schade, dass eine solche Schönheit so verfallen muss", seufzte er wehmütig. "Den Menschen ist es sowas von egal, ob Gebäude zerfallen. Das ist wirklich traurig. Als wir damals hier waren, wurden in diesem Saal noch rauschende Feste gefeiert und das Haus war voller Leben. Jetzt ist das einzige Leben hier, das der Fledermäuse und Spinnen." Tatsächlich wirkte der ganze Saal ein wenig trist und es war gut vorstellbar, dass hier einmal richtig schön gefeiert worden war. Zu gerne hätte Harry diese Zeit noch mit erlebt.

"Lass uns mal die Schlafzimmer suchen, diese Tristesse ist ja kaum auszuhalten." Zielsicher steuerte Adam eine weitere Flügeltür an, riss sie auf und betrat eine große Freitreppe, die sich hinauf in den ersten Stock wand.

Die Wände waren mit Stofftapeten verkleidet, deren fein gestickte Muster über die Jahrhunderte verblichen waren. Nur dunklere Vierecke deuteten darauf hin, dass einmal Bilder hier gehangen hatten. In der ersten Etage wurden sie von Eve eingeholt, die mit einem Arm voller Bücher hinter ihnen hergelaufen kam. "Haben wir schon ein Schlafzimmer gefunden?", fragte sie Harry und holte ihn auf halber Treppe ein. "Nein noch nicht", antwortete er und im selben Moment war Adam zu hören: "Ich glaube, es wird nicht leicht sein, hier noch ein intaktes Zimmer zu finden...seht euch das an."

Er hatte mehrere Türen geöffnet und sie warfen einen Blick in die Räume hinein: alle Zimmer zeigten Richtung Osten und wie sich herausstellte, hatten die Menschen Teile der Wand abgetragen. Das Schloss glich einem Puppenhaus.

Umzug mit Folgen IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt