17. Ein Foto, das Erinnerungen weckt

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Ein wenig resigniert standen die Drei in dem Zimmer und starrten hinaus auf die Landschaft. Eine Wandseite fehlte komplett und der Wind pfiff ihnen entgegen.

"Hier werden wir nicht schlafen können", seufzte Eve und blickte traurig auf die Stofftapetenreste, die an den Wänden verblieben waren. "Kommt, lasst uns einen anderen Raum suchen. Ich muss jetzt endlich schlafen", sagte Adam und verließ den Raum wieder. Harry blickte hinaus auf die Bäume, die im Garten des Hauses standen, der sicherlich einmal ordentlich gepflegt gewesen war. Die Sonne stieg immer höher und Harry hörte, dass auch Eve den Raum verließ, weshalb er sich umdrehte und ihr folgte. Da sie und Adam schon einmal hier gewesen waren, kannte sie sich aus und ging zielstrebig auf eine schmale Tür zu, die sich am Ende des Flures befand.

Eine Wendeltreppe führte sie nach Oben und Harrys Vermutung, sie befänden sich in einem der Türmchen, bestätigte sich rasch, als es immer höher hinaus ging. Ganz am Ende der Treppe gab es noch eine Tür. Sie war so niedrig, dass sie sich alle ducken mussten, um sich nicht den Kopf zu stoßen, doch das Zimmer dahinter war hoch genug, dass die drei Vampire aufrecht darin stehen konnten.

Hier war es schön. Sie befanden sich in einem Turmzimmer. Die Decken waren hoch und es stand ein Himmelbett in der Mitte des Raumes. Die Seidenvorhänge waren löchrig und matt vom Staub der vielen Jahre. Auf der dicken Matraze lag eine Steppdecke und kleine Staubwölckchen flogen daraus hervor, als Adam sich darauf fallen ließ. "Wenn ich mich recht erinnere, dann gibt es eine Etage höher, noch einen Raum", sagte er an Harry gewandt und deutete auf eine Leiter, die an einer Wand stand und hinauf zu einer Falltür führte. Er verstand, dass Adam mit seiner Freundin allein sein wollte, er das vierte Rad am Wagen war und nickte. "Schlaft gut", sagte er, lächelte kurz, schulterte seinen Rucksack und gin zu der Leiter hin. Direkt daneben befand sich noch ein stattlicher Kamin, der reich verziert war und es sicher mit Leichtigkeit schaffte, den Raum zu wärmen. Harry setzte den Fuß auf die unterste Sprosse der Leiter und stieg hinauf unters Dach.

Der Raum war im Gegensatz zum Turmzimmer recht niedrig und das Holz des Dachgebälks war gut zu sehen. Es knackte und lag unter einer dicken Staubschicht. Zum Glück hatte Harry als Vampir kein Asthma mehr, ansonsten hätte er hier drin Probleme beim Atmen gehabt. Der Wind pfiff über die Dachschindeln und gab einen leisen, jammernden Ton von sich.

Durch die zwei Fenster fiel die Morgensonne herein und Harry erkannte zwischen zwei alten Kommoden, einem Stuhl mit nur zwei Beinen tatsächlich ein Bett. Es war ein schmaler Holzrahmen und die Matraze hatte schon bessere Zeiten gesehen. Wie lange das wohl schon hier oben herum stand? Harry legte den Rucksack auf dem Boden ab und seine Schritte knarrten auf den Holzdielen, als er auf das Bett zuging. Das Zimmer sah ein bisschen aus, wie der Speicher seiner Großeltern, dachte Harry und öffnete neugierig eine der Truhen – mehrere fette Spinnen krabbelten verschreckt aus einer Wolldecke heraus, die zusammengeknüllt in der Kiste lag. Angeekelt machte Harry einen Schritt zurück und fasste die Decke nur mit den Fingerspitzen an. Mit einer schnellen Bewegung schüttelte er sie, kniff dabei die Augen zusammen und hoffte, dass alle Spinnen herausgefallen waren.

Die Wolldecke breitete er auf dem Bett aus und setzte sich. Traurig sah er hinunter auf die schmale Matraze: es war lange her, dass er alleine in einem Bett geschlafen hatte. Ohne es zu wollen beneidete er Adam und Eve, die einander hatten und unter ihm gemeinsam beieinander lagen. Er zog den Rucksack zu sich heran und öffnete ihn. Alles darin war ein wenig durcheinander geraten und er musste eine ganze Weile herumkramen, bis er das fand, wonach er gesucht hatte.

Als er hinunter auf das Foto blickte, dass ihn zusammen mit Louis zeigte, spürte er die Leere in sich nur noch stärker. Eigentlich hatte er gehofft, sich besser zu fühlen, doch dem war nicht so. Das Bild zeigte sie zusammen und Louis hatte einen Arm um ihn gelegt. Es war ein Schnappschuss von Zayn gewesen und seither Harrys Lieblingsbild, weil es so unbekümmert wirkte.

Seufzend strich er mit dem Finger über Louis Gesicht und biss sich auf die Lippe. Nie hätte er gedacht, Jemanden so schmerzhaft vermissen zu können. Doch das, was er in seinem Inneren fühlte, konnte nur das bedeuten. "Louis...ich vermisse dich so...wo bist du nur?" Seine Stimme klang heiser und ein Stechen an den Augenwinkeln kündigte Tränen an. Harry schüttelte den Kopf und schluckte einmal hart, um sich daran zu hindern, zu weinen. Wenn Adam das bemerkte, würde er ihn sicherlich als Weichei abstempeln und darauf hatte Harry überhaupt keine Lust. Doch egal, wie energisch er versuchte, sich zu kontrollieren, es klappte nicht, denn das Bild von Louis hatte er ja noch immer in der Hand und jeder Blick darauf bohrte ihm einen Dolch ins Herz.

Nach mehreren Minuten, in denen er um Selbstbeherrschung gerungen hatte, gab er auf. Harry zog die Knie an die Brust und vergrub das Gesicht in den Armen, dann schluchzte er los und es gab kein Halten mehr. Die Situation schien so aussichtslos zu sein: wie sollte er Louis jemals wieder finden? Zwar war er ein Vampir und hatte daher unbegrenzt Zeit um ihn zu suchen, doch es war doch nicht Sinn der Sache, Ewigkeiten einen anderen Menschen zu suchen. "Lou..." schniefend und zitternd atmend, krächzte er den Namen seines Freundes und rollte sich auf dem Bett zu einer Kugel zusammen. Hoffnungslosigkeit erfüllte ihn und machte seine Gedanken finster. Positiv zu denken, schien ihm jetzt gerade unmöglich zu sein und auch die strahlende Sonne, die Draußen vor dem Fenster aufging, konnte seine Laune nicht heben.

Die Wolldecke kratzte und war schon ganz nass von seinen Tränen, als Harry eine sanfte Stimme hörte: "Harry, was ist los?", fragte Eve und tauchte in der Falltür auf. Ganz offenbar hatte sie ihn gehört und kam nun, um nach ihm zu sehen. "Darf ich reinkommen?", fragte Eve und Harry hob den Kopf: "Fragst du mich das, weil du sonst nicht ins Zimmer treten darfst?" Er erinnerte sich daran, was sie ihm vorhin über das unaufgeforderte Betreten eines Hauses erzählt hatten. "Nein, ich wollte einfach nur höflich sein", entgegnete sie und brachte die letzten Sprossen der Leiter hinter sich, nachdem Harry ihr nickend seine Zustimmung gegeben hatte. Sie ging direkt auf ihn zu und setzte sich neben ihn auf das Bett. Vorsichtig, als sei sie ein wenig unsicher, legte Eve ihre knochige Hand auf seine Schulter.

"Ich wurde von deinem Schluchzen geweckt. Was ist los?", fragte sie ruhig und leise. Harry wischte sich über die Augen und wandte ihr das Gesicht zu; sie war ihm so nahe, dass er kurz erschrocken zusammenzuckte. Eves Augen huschten neugierig zwischen seinen hin und her und sie sagte: "Hat es etwas mit uns zu tun?"

"Nein, also zumindest nicht direkt. Es ist nur so, dass ich und mein Freund in Edinburgh im Kampf getrennt wurden und ich nun nicht weiß, ob es Louis gut geht und wo er ist..." Seine Stimme drohte zu brechen, doch er sprach tapfer weiter: "...und dann, dann sehe ich dich und Adam und mir wird bewusst, dass eine Hälfte von mir fehlt...dass wir genauso zusammen gehören, wie ihr beide. Und ich weiß einfach nicht, wo Louis ist...ich weiß nicht, was ich machen soll..." Jetzt brach seine Stimme und er sah mit Tränen in den Auge auf das Foto in seiner Hand hinunter.

Eve folgte seinem Blick. "Ist er das?", fragte sie, nahm ihm das Foto aus der Hand und musterte es: "Er ist ja wirklich ein sehr süßer Kerl. Und ihr seht so verliebt aus." Als sie den Blick hob und sah, dass Harrys Augen schon wieder in Tränen schwammen, gab sie ihm das Foto zurück und schloss ihn schnell in die Arme.

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