5. Auf den Dächern über der Stadt

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Lange dauerte es nicht, dann hatte Harry gesiegt und die letzten Menschen lagen bewegungslos am Boden. Nur ein Mann war noch übrig.

Er war recht jung und stand in der Küchentür.

Zitternd vor Angst hatte er Harry im Blick und hielt ein Kruzifix in die Höhe, um Harry abzuwehren.

"Kreuze werden dir nichts bringen." sagte er zu dem Jungen und trat auf ihn zu.

"Verschone mich!" flehte er, als Harry einen Schritt auf ihn zu machte und wurde kreidebleich vor Angst.

"Ich werde dich verschonen, wenn du mir sagst, wie ihr uns auf die Schliche gekommen seid." verlangte Harry. Der junge Mann nickte schnell und begann zögernd zu erzählen, ohne ihn dabei anzusehen: "Vor wenigen Tagen wurde eine Wohnung aufgelöst. Die Besitztümer wurden an die Menschen verteilt. In einer Kiste befanden sich mehrere Bilder. Sie zeigten Schulklassen und man erkannte euch darauf. Die Zeichnungen auf der Haut deiner Freunde sprachen Bände. Der Metzger hatte diese Kiste bekommen und erkannte euch wieder. Er berichtete uns, dass ihr ihn mit erlegtem Wild beliefert. Außerdem bemerkte er, dass die Kadaver immer komplett blutleer waren. So kam eines zum Anderen..." der Junge ebbte mit seiner Geschichte ab und verstummte. Harry seufzte: es gab also tatsächlich noch Schulfotos von ihnen und das war ihnen heute Nacht zum Verhängnis geworden. "D-darf ich jetzt gehen?" fragte der junge Mann leise. Harry antwortete nicht sofort. Er trat ans Fenster und sah hinunter auf die Straße: vor dem Haus standen noch viele Menschen und sahen zum Haus hin.

"Du darfst gehen, wenn du den Menschen auf der Straße erzählst, dass die Vampire erledigt sind. Sag ihnen, wir wären zu Asche zerfallen und zum Beweis zeigst du ihnen diesen Eimer. Blitzschnell holte Harry den Mülleimer aus Louis Zimmer in dem noch die Asche der verbrannten Zeitung lag und drückte ihn dem jungen Mann in die Hand. "Mach dich davon."

Das ließ sich der Mann nicht zweimal sagen. Er hob ergeben die Arme in die Höhe und ging seitwärts an der Wand entlang, um Harry nicht den Rücken zukehren zu müssen. Kaum, dass er die Tür erreicht hatte, rannte er los und stürzte regelrecht aus der Wohnung hinaus und die Treppe hinunter.

Kaum war die Tür hinter ihm zugeschlagen, wurde es still in der Wohnung. Harry stand in der Küche und sah die Leichen, die auf dem Boden lagen an. Es war wirklich schade gewesen, dass er sie alle hatte töten müssen. Seufzend stieg er über sie hinweg und ging ins Zimmer, das er sich mit Louis teilte.

Sie hatten nichts eingepackt, schließlich waren sie ja davon ausgegangen, nicht fliehen zu müssen. Harry kramte einen Rucksack hervor und steckte kurzerhand die Bilder seiner Familie und die von Louis' ein. Auch ein altes Foto von ihnen beiden fand den Weg in den Rucksack. Auch in Zayns Zimmer nahm er Bilder mit. Vielleicht würden sie nie wieder hierher zurückkommen und dann war es ja schön, wenn jeder etwas besaß, das ihn an seine Familie erinnerte. Nachdem er auch noch Streichhölzer eingepackt hatte, warf Harry sich den Rucksack über die Schulter und zog sich noch rasch um. In dunklen Hosen, Stiefeln und einem Kaputzenpulli von Louis, trat er nochmal ans Fenster und öffnete es einen Spalt breit. Vor dem Haus standen noch immer Menschen auf der Straße und ihre Stimmen wehten bis zu Harry hinauf.

"...er hat gesagt, sie sind alle tot."

"Das glaube ich nicht."

"Aber er hat uns doch die Asche gezeigt."

"Trozdem. Ich geh da jetzt rein und überzeuge mich selbst."

Rasch schloss Harry das Fenster wieder und ging mit schnellen Schritten durch die Wohnung. Er musste weg sein, bevor wieder ein Mensch hereinkam. Natürlich nahm er nicht die Haustür, sondern kletterte aus dem Küchenfenster. Vom schmale Fensterbrett aus konnte er die rostige Regenrinne gut erreichen und zog sich an ihr hinauf aufs Dach. Geduckt ging er bis zum Dachfirst und richtete sich dann auf. Es war Nacht und nur der Mond und die Sterne erhellten die Dächer der Häuser. Die Nachtluft wehte ihm um die Nase und Harry schnupperte, ob er vielleicht eine Fährte von Louis oder den anderen Jungs aufnehmen konnte. Doch außer dem intensivem Geruch des Blutes, das noch aus der WG-Küche zu ihm hinaufstieg, konnte er nichts erschnuppern. Frustriert ging er in die Hocke und vergrub die Hände in seinen dunklen Locken. Wohin waren Louis und die anderen gegangen?

Sie hatten sich keinen Notfallplan zurecht gelegt und nun im Nachhinein kam es Harry lächerlich vor, dass sie nicht daran gedacht hatten vielleicht eines Tages Hals über Kopf fliehen zu müssen. Er stand wieder auf und drehte sich einmal um sich selbst, um sich einen Überblick zu verschaffen. Die Dächer der Nachbarhäuser waren alle in etwa gleich hoch und er nahm kurz Anlauf und sprang auf das Nachbardach. Die Dachschindeln klapperten, als er darauf landete.

Im Kopf ging er alle Orte durch, wo seine drei Freunde Unterschlupf gefunden haben könnten und das erste, was ihm in den Sinn kam, waren die Gassen unterhalb der Stadt. Louis war dort aufgewachsen und sicherlich war auch ihm dieser Ort als erstes eingefallen. Die Gänge dort waren lang und verzweigt und man konnte sich wunderbar verstecken. Also beschloss Harry, sich auf den Weg in die Altstadt zu machen.

Obwohl er sich sicher war, dass wegen des Vollmondes heute Nacht kaum Jemand auf den Straßen sein würde, schien es ihm sicherer, den Weg über die Dächer zu nehmen.

Anfangs war das auch kein Problem und er kam gut voran. Doch je näher er der Innenstadt kam, desto mehr stiegen die Straßen an und die Häuser wurden höher. Es war fast so, als würde Harry gewaltige Treppenstufen erklimmen. Lautlos, wie eine Katze sprang Harry von Dach zu Dach und kam den hohen Häusern der Altstadt immer näher. Schon von Weitem sah er die Royal Mile, die schnurgerade auf das Edinburgh Castle zu führte. Leider wurden die Häuser nun zu hoch und die Dächer waren steil und voller Kamine, sodass Harry sich wieder an einer Regenrinne hinunter auf den Erdboden rutschen ließ. Das Mondlicht kam kaum bis auf die Straße hinunter, denn die Häuser hier waren so hoch, dass sie nur Schatten warfen und selbst der dunkle Stein, aus dem sie gebaut waren, reflektierte das Mondlicht nicht. So ging er also in vollkommener Dunkelheit weiter, passierte leerstehende Ladenlokale und Geschäfte und kam an den dunklen Durchgängen vorbei, die die Hauptstraßen miteinander verbanden. Irgendwo hier musste ein Eingang hinunter in die unterirdische Stadt führen. Seine Schritte hallten von den Wänden wider und Harry hielt nur ab und zu an, um die Nase in die Luft zu strecken. Keine Spur von Louis.

Aber ein Hauch von Zayn.

Rasch folgte Harry der Fährte, doch sie war so schwach, dass er sie kaum ausmachen konnte. Links von Harry befand sich eine große Kathedrale und gegenüber auf der anderen Straßenseite gab es einen Durchgang und Zayns Geruch schien von dort zu kommen. Ohne sich noch einmal umzusehen, betrat Harry den obersten Treppenabsatz und stieg die steinernen Stufen hinunter in die kühle Tiefe.

Die Treppe war steil und feucht und führte Harry weit hinunter. Hier gab es gar kein Licht und so sehr Harry sich auch anstrengte, konnte er gar nichts sehen. Seine Augen brauchten wenigstens einen kleinen Rest Licht, um zu funktionieren. Harry ging in die Hocke und kramte in seinem Rucksack nach einem Fetzen Papier und Streichhölzern. Zum Glück hatte er genug davon eingepackt. Blind formte er kleine Kügelchen und setzte sie in Brand. Die kleinen Geschosse warf er vor sich und das Glimmen des Papiers reichte aus, um ihm geügend Sicht zu verschaffen.

Umzug mit Folgen IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt