33. Manchester

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Missmutig zog Harry den Kopf zwischen die Schultern und blickte zum Himmel hinauf. Obwohl es dunkel war, konnte man im Mondlicht die Wolken gut erkennen, die sich am Himmel auftürmten und aus denen kalter Regen gnadenlos auf sie herunter prasselte. Ab und zu knallte es und ein Blitz zuckte über den dunklen Himmel, sodass sie für einen kurzen Moment alle drei wie Gespenster aussahen. Eves blondes, buschiges Haar fiel nun in dünnen Strähnen herunter und Adam gab sich gar nicht mehr die Mühe, sein schwarzes Haar aus dem Gesicht zu wischen. Harrys Locken waren durch den Regen glatt gezogen und immer wieder rann ihm ein kalter Wassertropfen den Nacken hinunter. Der Rücken seines Shirts war schon ganz durchnässt und er zitterte leicht, denn zu dem Regen kam ab und zu auch noch starker Wind dazu.

Nachdem sie zwei Zügen hatten ausweichen müssen, hatten sie beschlossen, neben den Schienen zu laufen, so liefen sie nicht Gefahr, überrollt zu werden.

„Wieso nehmen wir eigentlich keinen Zug?", fragte Harry und sprach damit sein Stunden das erste Mal wieder. Wie ihm auffiel, war es immer er, der die Fragen stellte. Entweder war Eve an Adams Art gewohnt, einfach das Ruder in die Hand zu nehmen, oder aber es war ihr einfach egal, dass er bestimmte und sie nicht nach ihrer Meinung fragte. „Wir haben kein Geld, womit wir eine Fahrkarte hätten kaufen können und außerdem bin ich nicht besonders scharf darauf, zusammen mit vielen Menschen in einem Wagen eingepfercht zu sitzen, wie ein Tier, ihren Herzschlag zu hören und das Blut zu riechen" grummelte Adam. „Es ist, als befändest du dich an einem Ort deiner Träume und dürftest nichts anfassen", erklärte Eve, nachdem Adam dem nichts weiteres mehr zugefügt hatte und weitergegangen war. „Was wäre das denn für ein Ort für dich?", fragte sie und sah Harry interessiert an. Sie musste heftig blinzeln, weil der Regen immer schlimmer wurde. Lange musste Harry über diese Frage nicht nachdenken und sagte: „Louis. Er ist zwar kein Ort, aber dort wo er ist, gehöre ich auch hin." Eve seufzte: „Das ist eine sehr schöne Antwort", sagte sie und lächelte verträumt zu Adam hin, der das Lächeln bemerkte und voller Zuneigung erwiderte. Für einen kurzen Augenblick sahen sich die beiden an, dann wandte er sich ab und stapfte ihnen weiter voraus. „Dasselbe könnte ich von Adam behaupten, aber in meinem Fall käme der verbotenen Versuchung eine Bibliothek wohl am Nächsten. Eine Bibliothek, deren Bücher ich nicht anfassen dürfte." Der Gedanke allein schien Eve schon so anzuwidern, dass sie das Gesicht verzog. „Nun, jedenfalls ist das der Grund, weshalb wir zu Fuß gehen. Wenn nur dieser verdammte Regen nicht wäre...die Nacht könnte so schön sein." Eve legte den Kopf in den Nacken und sah zu den Wolken hinauf, aus denen es unablässig auf sie herunterregnete. Sie schien immer dazu in der Lage zu sein, in allem etwas Positives zu sehen und Harry konnte nicht anders, als sie dafür zu bewundern. Ob das auch der Grund war, weshalb Eves Kleidung in hellen Farben gehalten war, während Adam nur Schwarz trug?

Sie waren wie Ying und Yang. So unterschiedlich und gehörten doch zusammen, wie Tag und Nacht. Ohne einander konnten sie nicht.

Der Regen wurde immer heftiger und der Wind sorgte dafür, dass die Tropfen nun auch von der Seite gegen ihre Gesichter gepustet wurden. Nun endlich schien auch Adam einzusehen, dass sie sich irgendwo unterstellten. Natürlich stimmten Harry und Eve sofort zu, als Adam vorschlug, unter einem Baum Schutz zu suchen.

Die Blätter des Baumes hielte den Regen größtenteils zurück, doch es sammelten sich die Tropfen und fielen nun dicker auf sie hinunter, als vorher und das war nicht unbedingt angenehmer. Harry drückte sich eng an den Baumstamm und war zum ersten Mal bewusst froh darüber, unsterblich zu sein, denn falls ein Blitz in den Baum einschlagen sollte, würde ihnen wenigstens nichts passieren.

Adam hatte sich zwischen den Wurzeln ins Gras gesetzt und lehnte den Kopf an die borkige Rinde. Harry saß ganz in der Nähe auf dem feuchten Gras und sah auf die Äste der Büsche um sie her, die vom Wind hin und her geweht wurden.

So blieben sie sitzen, bis der Regen nachließ, was erst im Morgengrauen der Fall war.

„Lasst uns den Tag nutzen und weitergehen. Schlafen können wir dann auch noch, wenn wir in London angekommen sind", schlug Eve vor und zu Harrys Erstaunen war Adam damit einverstanden.

So kam es, dass sie den ganzen Tag lang auf den Beinen waren und in der Nähe der Bahnschienen weiter nach Süden gingen. Harry musste zugeben, dass das menschliche Blut, das er von der Dame im Pub getrunken hatte, deutlich länger sättigte, als Tierblut. Obwohl sie viel Kraft brauchten, weil sie recht zügig gingen, hatte Harry keinen Hunger und konnte auch mit den Schritten seiner Reisegefährten gut mithalten, ohne rennen zu müssen. Obwohl sie lange Zeit über Wiesen und Felder gelaufen waren, tauchten nun nach und nach die ersten Häuser auf und Harry brauchte nicht lange, um zu erkennen, wo sie sich befanden. Als Jugendlicher war er häufig hier gewesen, um sein Taschengeld in der Einkaufsmeile auszugeben. Das war, bevor seine Mutter und Robin mit ihm nach Edinburgh gezogen waren. „Wo genau sind wir?", fragte Eve, als sie durch leere Straßen an verfallenen Backsteingebäuden vorbeigingen. „In Manchester", antwortete Harry und lächelte. Obwohl er nie in diesem Stadtteil gewesen war, durchströmte ihn ein Gefühl von Heimat und er fühlte sich wohl. „Hast du früher hier gelebt?", Adam sah zu Harry hinunter, der die Schultern zuckte und dem Vampir erklärte, dass er diese Stadt früher oft besucht hatte. „Das ist ja wunderbar, dann kennst du dich hier ein wenig aus. Wir sollten zusehen, dass wir nochmal an ein wenig Nahrung herankommen. So gibt es hier einen Pub?" fragte Adam und Harry machte große Augen: „Du willst nochmal dieselbe Nummer abziehen, nach allem, was letztes Mal passiert ist?" - „Natürlich will ich das. Diese Masche hat bisher immer funktioniert und dieses Mal ziehen wir ja sofort weiter und laufen nicht Gefahr, entdeckt zu werden. Zumindest nicht dann, wenn du nicht so nett zu unseren Verfolgern bist und versuchst sie zu schützen." Adam verschränkte die Arme vor der Brust und sah Harry auffordernd an. „Komm schon Harry. Du musst ja nichts trinken, wenn es dir zuwider ist. Aber je eher wir etwas bekommen, desto schneller sind wir wieder unterwegs und du willst ja irgendwann auch mal in London ankommen. Oder nicht?"

Harry seufzte. Natürlich wollte er so schnell wie möglich in die Hauptstadt und wenn er könnte, würde er dorthin fliegen. Aber wenn Adam und Eve Hunger hatten, dann sollte er ihnen nicht im Wege stehen. Seufzend gab er sich geschlagen und zuckte mit den Schultern: „Na gut...kommt mit, ich zeige euch, wo die City ist. Da gab es früher jede Menge Pubs."

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