6. Ein Monster im Tunnel

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Er drang weit in das Netz aus unterirdischen Gassen vor.

Manchmal fiel das Licht einer Kerze aus einem Haus auf die Gasse, in der sich Harry befand. Er beeilte sich, an den Häusern vorbei zu kommen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, drückte sich an die Wand gegenüber und huschte rasch wieder in die Schatten.

Zayns Fährte wurde immer schwächer und Harry hätte am Liebsten nach ihm gerufen, doch das wäre leichtsinnig gewesen, also ließ er es bleiben.

Als er nur noch verlassene Häuser passierte, wagte er ab und zu einen Blick hinein. Tapetenreste schälten sich von den Wänden und in manchen Zimmern standen verfallene Reste von Möbeln, die im Laufe der Zeit von Feuchtigkeit und Getier zerstört worden waren. Harry strich andächtig mit der Hand über eine gemusterte Tapete und war so vertieft in den Anblick, dass ihm erst spät auffiel, dass Zayns Geruch nun vollständig verflogen war. Zwar versuchte Harry noch, einen letzten Rest zu erschnuppern, doch es gelang ihm nicht. "Verdammt." Deprimiert und entmutigt ließ er sich an der Wand herabsinken und vergrub das Gesicht in den Händen.

Es durfte einfach nicht sein, dass er ihre Spur verloren hatte, wo sie doch offensichtlich hier gewesen waren. Sie hatten immer zusammenbleiben wollen und nun das? Wieso hatten sie sich keinen Notfallfluchtplan zurecht gelegt? Harry entwich ein frustrierter Laut, der in den langen Gängen widerhallte und erstaunlich lange zu hören war. Durch das Echo klang es ziemlich unheimlich und in der Ferne konnte er Sekunden später den Angstschrei eines Kindes hören. "Daddy, da ist ein Monster im Tunnel!" Daraufhin waren aufgebrachte Männerstimmen zu hören. Sie fragten das Mädchen, aus welcher Richtung das Geräusch gekommen war und Harry lauschte aufmerksam. "Der Junge hat sicherlich gelogen. Vielleicht sind sie entkommen und haben sich hier unten versteckt. Los Männer!" Alarmiert sprang Harry auf die Beine. Hatte sich der Kampf in der Wohnung so schnell herumgesprochen, oder gehörten die Männer zu der Truppe, die auf der Straße gestanden und von dem Jungen unterrichtet worden war? Womöglich wurde die ganze Stadt nun zu Vampirjägern. Wo sollten sie denn dann noch Schutz finden, wenn alle Menschen aufmerksame Beobachter waren? Schnell, aber so leise wie möglich, hastete Harry einen Weg entlang und hoffte nun doch, dass sich seine Freunde nicht in diesen Gängen versteckten. Womöglich liefen sie sonst noch den Vampirhäschern in die Arme. Er musste einen Weg nach Draußen finden und dann würde er dort weiter nach seinen Freunden suchen. Hier unten in den Gassen waren sie nicht mehr sicher.

Das Netz aus Gassen war verzweigt, doch irgendwann erreichte Harry eine Leiter, die nach Oben führte. Rasch kletterte er hinauf und stieß nach einigen Metern mit dem Kopf an eine Metallplatte. Nach dem Abtasten erkannte er, dass es sich dabei um einen Gullideckel handelte. Vorsichtig hob er den Deckel an und lugte hinaus. Viel konnte er nicht sehen; am Straßenrand standen einige Mülleimer und alles war im schummrigen Licht einer Gaslaterne erhellt. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen und so wagte sich Harry hinaus auf die Straße. Er zog sich aus dem Gulliloch und schob den Metalldeckel wieder zurück an seinen Platz. Als er sich aufrichtete und umsah, hatte er keine Ahnung, wo er sich befand. Um ihn her befanden sich hohe Gebäude und ganz in der Nähe war eine kleine Rasenfläche. Vielleicht war es mal ein kleiner Park gewesen. Hinter den Fenstern der Häuser war kein Licht zu sehen und der Wind fegte über den Platz. Der Vampir stieg eine Treppe hinauf, die zwischen zwei Häusern hindurch auf eine andere Straße führte. "Louis, wo bist du nur?" seufzte Harry und versuchte in der Luft noch einen Rest von seinen Freunden zu erschnüffeln, doch es war nichts zu riechen. Ob er seine Suche aufgeben sollte? Irgendwie beschlich Harry das ungute Gefühl, dass seine Freunde vielleicht gar nicht mehr in der Stadt waren. Aber was, wenn er nun die Stadt verließ und sie sich doch hier irgendwo verbargen und auf ihn warteten? Vielleicht sollte er doch nicht so schnell aufgeben.

Stufe für Stufe brachte er hinter sich, bis er zwischen zwei Häusern hindurch auf eine Gasse trat. An den blanken Backsteinwänden hingen vom Regen aufgeweichte Werbeplakate. Er schenkte ihnen keinerlei Beachtung und bald würde die Sonne aufgehen. Deswegen beschloss Harry, sich noch auf der Burg unzusehen und dann wieder auf die Nacht zu warten, bevor er weitersuchte. Im Schutz der Dunkelheit war er sicherer.

Das Edinburg Castle lag auf einem Burg aus dunklem Vulkangestein. Über einen breiten Vorhof konnte man die Burg bequem erreichen, doch die Straße, die Harry entlangging, führte ihn auf die Rückseite der Burg und endete an einer Felswand. Er beschloss, die Wand hinauf zu klettern, ansonsten wäre ihm nur der Weg über den Vorhof geblieben. Dort würden sich jedoch um diese Uhrzeit bereits die ersten Händlern für den Markt einfinden und von Menschen wollte sich Harry heute fernhalten, solange er sich nicht vergewissert hatte, dass nichts über ihn und seine Freunde in der Zeitung erschienen war. Das Interesse der breiten Öffentlichkeit fehlte ihm gerade noch.

Mittlerweile hatte er den Fuß der Burgmauer erreicht, deren Steine rau und grob waren, sodass ersich gut darin festkrallen konnte, wärend er sich über die Mauer zog und lautlos auf dem Innenhof landete.

Die Burg hatte sich kaum verändert, was gut war, denn so gab es für Harry einen Fixpunkt, der immer gleich blieb, egal wieviele Jahre vergingen. Wie oft er mit Louis schon hier oben gewesen war, konnte er gar nicht mehr sagen. Es waren unzählige Male gewesen. Hier hatten sie ihren ersten Kuss gehabt. Und Harry hatte herausgefunden, dass der Junge, in den er sich verliebt hatte, ein Vampir war. Wenn er an den Kuss dachte, kribbelte es noch immer nervös in ihm und das, obwohl sein Herz schon lange Zeit nicht mehr schlug. Manchmal vermisste Harry das nervöse Flattern, das sich in Louis Nähe immer bei ihm eingestellt hatte, doch erinnern konnte er sich an das Gefühl noch gut genug. Von hier oben hatte man einen berauschenden Ausblick auf die Altstadt und Harry genoss ihn sehr, wärend er sich auf ein Mäuerchen lehnte und den Blick über die Dächer und die vielen Kamine schweifen ließ, die dünne Rauchfäden in den immer heller werdenden Morgenhimmel bliesen.

Wärend er hoffte, seine Freunde vielleicht auf einem der Dächer sitzen zu sehen, schweiften seine Gedanken ab. Alles hier sah am Morgen so friedlich aus, doch der Schein trügte. Heute würden viele Familien die Nachricht erhalten, dass der Vater, Sohn, oder Bruder in der Nacht getötet worden war.

Getötet von ihm.

Harry senkte den Kopf:er hatte niemals Menschen töten wollen. Ein Grund, weshalb er die Jungs dazu überredet hate, auf Tierblut umzusteigen, nachdem es immer schwerer geworden war, an menschliche Blutkonserven heranzukommen und sie sich eine Alternative hatten ausdenken müssen.

Umzug mit Folgen IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt