Louis:
Mit einem leichten Anflug von Panik sah Louis sich um. Zayn stand nicht mehr vor dem Glaskasten und auch sonst war kein Mensch zu sehen. Wäre an der kleinen Bahnstation viel los gewesen, hätte er seinen Freund ja auch einfach übersehen können, aber hier war Niemand.
Sein Atem ging schneller und als Louis den Geruch des Schmieröls der Lokomotiven und den Rauch der Schornsteine roch, war er kurz erleichtert, kein Blut mehr zu riechen. Doch im selben Augenblick, als er das dachte, kam ihm ein schrecklicher Gedanke: das Kind und seine Mutter hatten vor ihm das Gebäude verlassen.
Was, wenn auch Zayn einen solchen Durst verspürt und das Kind angefallen hatte? Was, wenn er wieder zu einer solchen Bestie geworden war wie damals, 1888? Dann lag jetzt hier irgendwo vielleicht ein totes Kind im Gebüsch und sie würden so schnell wie möglich verschwinden müssen.
Louis drehte sich einmal um sich selbst und ging dann zu einem Durchgang, der die Passanten unter den Gleisen hindurchführte.
"Zayn?", fragte er leise und war überrascht, wie unsicher er dabei klang. Wie ein Kind, das seine Mutter in einem großen Supermarkt verloren hatte. "Zayn, bist du da?" Seine Stimme hallte in der leeren Unterführung wider und endlich bekam er eine Antwort. "Lou? Ich bin unter dem Treppenaufgang."Mit raschen Schritten ging er auf die Treppe zu, die am Ausgang des Durchgangs an die Mauer angebracht war und die hinauf zum Gleis führte.
Zayn kauerte im Schatten unter der Treppe und als Louis die riesigen Pupillen sah, war ihm klar, dass auch er den Jungen gesehen haben musste. "Ist er außer Reichweite? Der kleine Junge. Ist er weg?", fragte Zayn nervös und als Louis nickte, richtete er auf und wirkte erleichtert: "Oh man, ich dachte ich kann mich nicht beherrschen, als ich gesehen habe, dass er Nasenbluten hatte. Kinderblut ist so unglaublich gut....oh man." Zayn rieb sich mit der Hand übers Gesicht, das blass geworden war und eingefallen wirkte. Louis bezweifelte allerdings, dass Zayns schlechtes Äußeres ausschließlich mit dem Auftauchen des Kindes zu tun hatte.
"Hast du ein Ticket für uns bekommen?", fragte Zayn, schwer ausatmend und schob die Hände in die Hosentaschen. Louis nickte und hielt das hangeschriebene Papier hoch. Der Vampir warf einen Blick auf die Abfahrtszeit: "...dann haben wir ja noch ein bisschen Zeit. Wollen wir uns einfach schonmal auf den Bahnsteig setzen und dort warten? Hier gibt es sonst nichts anderes zu tun."
Der Bahnsteig war dunkel und nur eine Lampe brannte vor dem Gebäude, das zu dieser Uhrzeit geschlossen war. Der Bahnhofsvorsteher hatte Feierabend und die Fenster der Station waren verriegelt worden. Auf dem ganzen Bahnsteig gab es nur eine kleine Holzbank auf die sie sich setzten und auf die Schienen starrten, die sie hoffentlich in die Hauptstadt bringen würden.
"Irgendwie hatte ich gehofft, dass uns Liam doch noch einholt", murmelte Zayn nach einer Weile des Schweigens und seufzte tief. "Aber irgendwie scheint er ja doch mehr Interesse an Elisabeth zu haben. Dabei bin ich mir ziemlich sicher, dass sie gar nicht an ihm interessiert ist. Liam hat sich da in eine aussichtslose Sache verrannt."
"Ja das glaube ich auch. Ich denke, sie fand es einfach nur toll, von Jemandem angeschmachtet zu werden", sagte Louis und sah seinen Freund von der Seite her an. Zu gerne hätte er ihn getröstet, doch ihm fehlten die passenden Worte, also sagte er ganz schlicht: "Naja, vielleicht holt er uns ja noch ein."
"Wie soll das gehen? Seine Sinne sind bei weitem nicht so gut, wie unsere und wir haben keine Geruchsmarkierungen hinterlassen, die er verfolgen könnte..." Zayn lehnte sich auf der Bank zurück und legte den Kopf in den Nacken um hinauf in den dunklen Himmel zu blicken. "Ich bin aber durchaus in der Lage nachzudenken. Das hättest du mir schon zutrauen können."Louis und Zayn fuhren so schnell herum, dass sie beinahe von der Bank fielen. Im Licht der einsamen Lampe, das vom Bahnsteig gegenüber zu ihnen fiel, war Liam nicht sofort zu erkennen. Er trug einen Kapuzenpullover und stand ein wenig schüchtern einige Meter entfernt. "Liam", keuchte Louis, vergaß, dass er eigentlich hatte wütend sein wollen, rannte auf ihn zu und umarmte ihn. "Wie hast du uns gefunden?", fragte er neugierig und Liam antwortete: "Nun, denken kann ich noch recht gut und ich dachte, dass ihr Harry vielleicht in London vermutet, da er dort verwandelt wurde. Und nachdem dieser Bahnhof der einzige im Umkreis von 50 Meilen ist, der noch in Betrieb ist, war es naheliegend, dass ihr hierher kommt." Liam nahm den Rucksack von der Schulter und setzte sich auf die Armlehne der Bank – möglichst weit weg von Zayn, der noch gar nichts gesagt hatte. Er war ihm lediglich mit den Augen gefolt und hatte eine Hand in den Stoff seiner Jeans gekrallt.
"Wieso bist du hergekommen? Hat die Kaiserin dich rausgeworfen?" Er klang verletzter, als er es vielleicht beabsichtigt hatte und Louis wünschte sich, Liam hätte sich auf seine andere Seite gesetzt, damit er nicht zwischen den beiden saß. Liam antwortete nicht sofort, sondern biss ein paar mal auf seiner Unterlippe herum, bevor er etwas sagte: "Als ihr gegangen seid, hat sie sich ziemlich negativ über euch geäußert. Sie sagte, sie hätte uns nur aufgenommen, weil es sich aus Höflichkeit nunmal so gehört und weil ich ihr gefallen hätte...aber sie war auch ehrlich und meinte, dass sie es genoss, dass ich sie toll fand. Natürlich hat sie meine Schwärmerei heraufbeschworen, denn sie wusste genau, wie sie auf Männer wirkte...ich glaube, sie brauchte einfach mal wieder Jemanden, der sie anhimmelt. Aber ernst gemeint hat sie es nicht. Als mir das klar wurde, habe ich sofort meine Sachen gepackt und bin gegangen."
"Rührende Geschichte. Ich schmelze dahin. Bist du auf den Gedanken gekommen, dass wir dich nicht hier haben wollen?", fragte Zayn und sah Liam zum ersten Mal in dieser Nacht offen ins Gesicht. Ungläubig runzelte Louis die Stirn: "Zayn, das meinst du nicht so."
"Er hat mich verletzt. Ich kann das nicht einfach so vergessen", protestierte Zayn, doch Liam unterbrach ihn. "Du hast noch Gefühle für mich?", fragte er ganz direkt und Zayn stand bei diesen Worten so schnell auf, als hätte die Bank ihm einen elektrischen Schlag verpasst.Louis schloss die Augen. Er konnte es einfach nicht glauben, dass seine Freunde sich nicht eingestanden, dass sie doch noch etwas füreinander empfanden. Vielleicht hatten sie auch nie aufgehört sich zu lieben, sondern ihre Gefühle nur falsch verstanden. Liebe war schließlich nicht immer gleich. Diese Phase der rosaroten Brille, die voller Herzklopfen und Tagträume war, ebbte nach einer gewissen Zeit ab. Und wenn man sich dann einbildete, man würde den anderen Menschen nicht lieben, nur weil die Liebe vielleicht etwas weniger aufgewühlt und jugendlich war als früher, dann hatte man sich in die Irre führen lassen. Vielleicht war genau das bei Liam und Zayn geschehen und sie hatten nicht erkannt, dass ihre Zuneigung nicht abgeebt, sondern tiefer geworden war.
Um eine Antwort auf Liams Frage kam Zayn glücklicherweise ersteinmal herum, denn ein Lichtpunkt in der Ferne kündigte den Zug an.
Große Dampfschwaden ausstoßend fuhr die Lokomitive in den kleinen Bahhof ein und hielt mit zischenden Kolben am Bahnsteig. Außer ihnen war niemand auf dem Bahnsteig und sie kletterten in einen Wagen. Es war ein altes Modell, mit Türen, die man noch von Hand aufziehen musste. Ohne elektrischen Strom hatte man die alten Züge ausrangieren müssen.
Der Zug war trotz der späten Uhrzeit recht voll und sie mussten eine ganze Weile suchen, bis sie ein Abteil gefunden hatten. Schließlich setzten sie sich zu zwei älteren Herrschaften, die schliefen und sich daher nicht gegen neue Sitznachbarn wehren konnten.
Louis setzte sich ans Fenster und sah, wie die Landschaft langsam an ihnen vorbei zog. Sein Spiegelbild in der angelaufenen Scheibe, wirkte müde und traurig und er hoffte inständig, dass er Harry in London endlich wiedersehen würde.
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Umzug mit Folgen II
FanfictionTeil zwei von Umzug mit Folgen! Das Jahr 2175. Es gab Krieg. Amerika hat gegen Russland gekämpft. England kam durch den Brexit noch ganz gut weg, aber die Menschheit hat sich zurückentwickelt. Sie werden abergläubisch und das ist für die Vampire in...