Harry hatte sich nicht zu Adam und Eve gelegt. Obwohl er es gerne getan hätte, aber sie waren nicht seine Eltern - obwohl Eve vom menschlichen Alter her sogar seine Mutter hätte sein können. Doch als er die beiden eng aneinander geschmiegt und vollkommen nackt im Bett hatte liegen sehen, wollte er sich nicht dazwischen drängeln, wie ein kleiner Junge.
Weil die beiden wirklich lange schliefen, durchstreifte Harry die Burg und sah sich ein wenig um. Die Wendeltreppe führte ihn wieder hinunter in den zweiten Stock, wo Harry neugierig die vielen Zimmer untersuchte, die sich dort befanden.
In den meisten standen nur noch kaputte Möbel herum und die Tapete schälte sich von den Wänden und hing in Fetzen daran herunter. Es roch muffig, vielleicht hatte sich über die Jahre irgendwo Schimmel gebildet. Harry ging an den Resten eines Himmelbettes vorbei und trat an die Stelle, wo sich einmal eine Außenwand befunden haben musste. Die Menschen hatten sie abgetragen und er hatte einen guten Blick über ein schmales Waldstück, hinter dem sich ein Dorf befand. Eine angenheme Frühlingsbrise wehte Harry entgegen und er sog die frische Luft genüsslich ein. Die Sonne war untergegangen und in den Fenstern der Häuser brannte Licht. Beim Gedanken, dass sich mit den dort wohnenden Menschen auch eine potentielle Nahrungsquelle ganz in der Nähe befand, wurde Harry ganz anders. Irgendwie fühlte es sich für ihn so falsch an, mit zwei Vampiren unterwegs zu sein, die sich anders ernährten als er. Und sicherlich würden die beiden bald wieder auf die Jagd gehen müssen. Beim Gedanken an Eve und Adam fiel Harry auf, dass er noch immer nich wusste, weshalb sich Adam so über Williams Tod gefreut hatte. Sobald sich die Gelegenheit dazu ergab, würde er ihn fragen.
Ein Geräusch ließ ihn herumfahren und er sah einen schmalen Lichtstrahl, der unter einem Regal hervosickerte. Verwundert näherte sich Harry dem schmalen Regal. Wo kam das Licht her? Mit einer Hand drückte er ein wenig gegen das Holz der Seitenwand und schob es soweit, dass ein Durchgang dahinter zu erkennen war. Leise glitt Harry hindurch und fand sich ein einer Art geheimen Bibliothek wieder.
Der Raum war winzig klein und in den engstehenden Regalen befanden sich noch recht viele Bücher, obwohl auch hier schon einige fehlten. Vielleicht hatten sie ihren letzten Nutzen im Kamin der Dörfler gehabt. "Harry." In einem hohen Stuhl saß Adam und drehte sich zu ihm um. Eine Kerze flackerte neben ihm in einem Leuchter. Harry hatte ihn nicht gesehen und zuckte zusammen. "Ich dachte, du bist noch im Bett und schläfst."
"Ich konnte nicht mehr schlafen. Der Hunger war so groß. Praktisch, dass dieses Dorf hier in der Nähe ist." Er grinste, doch Harry erwiderte das Grinsen nicht. "Achja, ich hatte vergessen, dass du ja keine Menschen beißt." Bildete er es sich ein, oder wurde Adams Blick schon wieder spöttisch? Harry beschloss, den Vampir zur Rede zur Stellen, er lehnte sich gegen ein Regal und blickte Adam an. "Hast du ein Problem mit mir?", fragte er ganz direkt und Adams Augenbrauen hoben sich: "Wie meinst du das?"
"Ich werde das Gefühl nicht los, dass du alles, was ich sage oder tue, total lächerlich findest. So, wie du dich gerade über mich amüsiert hast, weil ich keine Menschen beißen will." Wie gut es tat, es endlich einmal auszusprechen. Adam lehnte sich zurück und legte ein schmales Buch beiseite, in dem er gelesen hatte. "Falls du das so aufgenommen hast, tut mir das Leid. Ich hatte nicht die Absicht, mich über dich lustig zu machen. Es ist nur so, dass du einfach noch sehr jung bist und mir manchmal deine Aussagen ein wenig amüsant vorkommen. Das wirst du jetzt vielleicht noch nicht verstehen, aber wenn du einmal viele Jahre gelebt hast, dann wirst du das verstehen. Eve und ich haben so viele Kriege, Seuchen und Machtwechsel mitgemacht, dass wir über unglaublich viel Lebenserfahrung verfügen. Es ist, wie wenn man sich als Erwachsener mit einem Kleinkind unterhält. Mir fällt das schwer, hab dafür bitte Verständnis."
Puh, das saß. Harry wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Es kränkte ihn, dass Adam ihn mit einem Kleinkind verglich - immerhin war er 17 Jahre ein Mensch gewesen. Doch Adam war sowohl als Mensch, als auch als Vampir so viel älter als er, dass sein Vergleich tatsächlich ganz gut passte. Doch natürlich würde er das niemals zugeben und schwieg stattdessen.
"Harry, bitte sei jetzt nicht wütend, weil ich das gesagt habe. Denk doch mal nach: ich wurde vor 900 Jahren zum Vampir, das ist unglaublich lang und im Verhältnis dazu, bist du mit deinen 160 Jahren, oder wie alt du auch immer genau bist, einfach seeehr jung." Harry hob den Kopf und sah zum ersten Mal, dass Adam ihn eher mitfühlend ansah. Vielleicht war das Eis zwischen ihnen nun endlich gebrochen. Er beschloss, es auszutesten und fragte leise: "Willst du mir jetzt endlich erzählen, wieso du dich so über Williams Tod gefreut hast?", fragte Harry und fuhr mit dem Finger die Holzmaserung an einem der Bücherregale nach. Adam seufzte und schien einen Moment nachzudenken, bevor er sagte: "Kennst du dich ein bisschen in der Geschichte aus?"
Harry zuckte die Schultern: "Geht so. Es kommt auf den Bereich an. Wieso?"
"Sagt dir der Name Christopher Marlowe etwas?" Irgendwie weckte der Name etwas in Harrys Gedächtnis und in seinen Erinnerungen hörte er Williams Stimme wiederhallen, die sagte: "...Romeo und Julia. Dieses Werk hat ein Kollege von mir - Christopher Marlowe war sein Name - verfasst und unter meinem Namen veröffentlicht. Er war zu dieser Zeit als Spion für die Königin Elizabeth tätig. Unter anderem in Italien, weswegen er auch viel Wissen darüber hatte...." "William hatte Romeo und Julia nicht selbst geschrieben. Das war Christopher Marlowe." Adam nickte, legte die Fingerspitzen an die Lippen und sagte: "Und Christopher war ich."
Ungläubig starrte Harry den Vampir an. Waren denn alle berühmnten Schriftsteller Vampire? Oder veräppelte ihn Adam schon wieder? "Ich sehe, dass du mir nicht glauben willst", stellte er fest und lächelte geheimnisvoll. Harry wandte sich ab und ging vor den Bücherregalen hin und her. Er kannte sich in der Geschichte um Marlowe nicht so gut aus, wie er sich in Shakespeares ausgekannt hatte. Doch als er als Junge über seinen Lieblingsschriftsteller recherchiert hatte, war er natürlich auch über Marlowe gestolpert. Soweit er sich erinnerte, war Marlowe im Februar 1564 geboren, hatte eine Schule und eine Universität besucht und war dann als Schreiber durchs Land gereist. Laut William hatte er auch noch als Spion gearbeitet. Aber wie konnte dann Adam Marlowe sein? Der war ja zu Marlowes Geburt schon etwa 300 Jahre alt gewesen. Das passte doch alles nicht zusammen und Harry schüttelte den Kopf: "Sorry Adam, aber das kaufe ich dir nicht ab. Diese Geschichte passt vorne und hinten nicht zusammen. Von Marlowe soll es einen Eintrag in einem Taufregister geben und er wurde nachweißlich in einem Gasthaus bei einem Streit erstochen. Das KANNST du nicht gewesen sein." Fast schon ein wenig stur, verschränkte Harry die Arme vor der Brust und sah Adam direkt in die Augen. Dieser erwiderte den Blick vollkommen ausdruckslos und sagte einen Augenblick gar nichts. Vielleicht überlegte er, wie er seine Aussage so drehen konnte, dass sie doch noch glaubhaft erschien.
Nach einigen Momenten des Schweigens, deutete Adam auf eine Truhe, die neben dem Stuhl stand, auf dem er saß: "Setz dich und ich werde dir alles erzählen. Wenn ich fertig bin, wirst du sehen, dass ich nichts erfunden habe und alles sehr wohl zusammenpasst." Einen Moment zögerte Harry, dann ließ er sich doch auf die Truhe sinken, zog die Beine in den Schneidersitz und blickte Adam erwartungsvoll an. Mit der Hand strich er sich durch die mattschwarzen Haare und räusperte sich.
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Umzug mit Folgen II
FanfictionTeil zwei von Umzug mit Folgen! Das Jahr 2175. Es gab Krieg. Amerika hat gegen Russland gekämpft. England kam durch den Brexit noch ganz gut weg, aber die Menschheit hat sich zurückentwickelt. Sie werden abergläubisch und das ist für die Vampire in...