29. Jäger auf der richtigen Fährte

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Louis tauchte nicht in seinem Traum auf. Doch Harry irrte auch in dieser Nacht wieder durch die Flure des Globe Theaters und wieder verfolgten ihn Schritte, die immer näher kamen. Hinter jeder Ecke, die er passierte, hoffte er Louis endlich zu sehen, doch er tauchte nicht auf und das, obwohl Harry sich sicher war, seine Gegenwart zu spüren. Stattdessen schien William immer näher zu kommen und Harry war sich sicher, dass er ihn bald wieder eingeholt hatte. Panik stieg in ihm auf und das Atmen fiel ihm schwer. Fast war ihm, als hätten sich zwei große Hände um seinen Brustkorb gelegt und drückten so fest zusammen, dass er kaum atmen konnte.

Ruckartig fuhr Harry aus dem Schlaf hoch und atmete schwer. Die Nacht dämmerte bereits herauf und in dem kleinen Zimmer unter dem Dach war das Licht diffus und als Harry aus dem Fenster blickte, sah er, dass die Sonne fast schon untergegangen war und lange Schatten in den kleinen Raum warf. Nervös und durcheinander von seinem Traum, fuhr sich Harry durch die Haare und strich sich dann die dunklen Locken hinter die Ohren. Er konnte jetzt nicht hier sitzenbleiben, das würde ihn nicht so schnell von dem Traum ablenken, wie er es jetzt brauchte. Harry war durcheinander, weil er sich nicht sicher war, was diese Verfolgung bedeuten sollte. Traumdeutung war noch nie sein Fachgebiet gewesen. Unruhig schlug er die kratzige Decke zurück und stand auf. Weil er in seinen Klamotten geschlafen hatte, musste er keine Zeit darauf verschwenden, sich anzuziehen und kletterte leise die Leiter ins Zimmer von Adam und Eve hinunter. Sie lagen eng beieinander und schliefen noch. Adam hatte sich ein Kissen über den Kopf gezogen und umklammerte ein Bein von Eve. Das schien ihre übliche Schlafposition zu sein und Harry wandte sich rasch ab. Es war einfach zu intim, die beiden so zu beobachten.

In der Eingangshalle war es schon recht dunkel und als Harry den großen Festsaal betrat, lang dieser bereits in Dunkelheit vor ihm. Durch die großen, hohen Fenster konnte er die Wolken sehen, die am Himmel in rascher Folge vorbeizogen. Irgendwie beschlich ihn ein Gefühl des Aufbruchs, obwohl Harry nicht genau sagen konnte, woran das lag. Unruhig und an seinen Traum denkend, schlenderte er an den Fenstern entlang und ließ die Fingerspitzen gedankenverloren über die Glasscheiben gleiten. Bedeutete der Traum vielleicht, dass er zum Globe Theater gehen sollte? Oder eher, dass sie in Gefahr waren und er sich auf eine Flucht einstellen musste?

Er hatte den Raum gerade einmal durchquert, als eine Bewegung auf der Wiese vor dem Haus seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Mit gerunzelter Stirn, die Augen zusammengekniffen, blieb Harry stehen und sah drei Männer auf das Gebäude zukommen. Obwohl er nur ihre Umrisse sehen konnte und ihm ihre Gesichter verborgen blieben, erkannte Harry, dass sie einen entschlossenen Eindruck machten.

Sollte er seine beiden Begleiter wecken und vorwarnen? Noch waren die drei Gestalten mindestens 10 Minuten entfernt und er hätte genug Zeit. Doch Harry war neugierig und irgendetwas in ihm wollte versuchen, die drei abzufangen. Glücklicherweise sah man ihm das Vampir-Sein nicht an. Er hatte keine spitzen Eckzähne, keine sonderlich auffälligen Augenringe oder blasse Haut. Für Fremde, könnte er genausogut ein heimatloser Jugendlicher sein. Der Gedanke erschien Harry plausibel und er fasste den Plan, den Jungs etwas vorzuspielen, um herauszufinden, was sie wollten und sie gegebenenfalls auf eine falsche Fährte zu locken.

Er zog sich ein wenig in den Schatten zurück und legte sich unter das Klavier, tat so, als würde er dort auf dem Fußboden schlafen, doch obwohl er ganz still dalag, hatte er die Augen weit geöffnet und behielt die Fenster im Blick.

Bald müssten die drei Gestalten auftauchen und er wartete in nervöser Erwartung darauf, wie sie wohl auf ihn reagieren würden.

Im großen Saal war es ganz still und Harry hoffte, Adam und Eve würden noch eine Weile schlafen, sodass er es unbemerkt schaffen würde, die drei Besucher auf eine falsche Fährte zu locken – sollten sie ihretwegen kommen. Einige Glasscheiben in den Fenstern waren schon zerbrochen und Harry hörte irgendwann, dass die Fremden in das Gebäude kletterten. "Pass auf, dass du dich nicht schneidest, da stecken noch Glassplitter im Rahmen", wisperte eine Stimme und Harry stellte sich schnell schlafend, achtete aber darauf, dass sein Arm unter dem Piano hervolugte, sodass er auf jeden Fall gesehen wurde.

Die Schritte klangen dumpf auf dem Holzboden und kamen langsam näher. "Wartet!", zischte eine Stimme und sofort blieben alle drei stehen. "Was ist Dom?", frage ein Junge mit rauer Stimme. "Da liegt jemand. Dort unter dem Klavier", antwortete der Junge, der Dom heißen musste. Harry schloss die Augen und atmete betont langsam ein und aus. "Das ist ein Junge...was macht der hier? Meinst du, er ist tot?", fragte der Junge mit der rauchigen Stimme und Jemand stupste Harry an. "Hey, hallo...kannst du uns hören?" Gespielt, aber überzeugend schreckte Harry aus dem "Schlaf" hoch und blickte die drei Jungs verstört an, krabbelte dann rasch zurück, als hätte er Angst vor ihnen. Wenn sie wüssten, dass dem gar nicht so war.

"Hey, es ist alles gut, wir wollen dir nichts tun", versuchte ein Junge mit dunklem Haar ihn zu beruhigen und streckte vorsichtig eine Hand nach Harry aus. "Wer seid ihr? Was wollt ihr hier?", fragte Harry verwirrt und sah zwischen ihnen hin und her. "Ich bin Dom, das sind Dave und Alexander", sagte der Dunkelhaarige und deutete auf zwei Jungs, die beide Kapuzen trugen. „Hi. Ich bin Harry", sagte Harry leise und versuchte dabei möglichst eingeschüchtert zu klingen. „Bist du alleine hier, Harry? Das ist gefährlich", sagte der Junge mit der rauchigen Stimme, den Dom als Alexander vorgestellt hatte. „Wir sind nämlich auf der Suche nach einem Verbrecher", fügte Dave hinzu und beugte sich vertraulich ein wenig vor: „Es kann sein, dass sich der Kerl hier im Schloss versteckt, da ist es leichtsinnig, hier Unterschlupf zu suchen. Du bist doch sicherlich von Zuhause ausgerissen, oder?", setzte er nach und sah Harry prüfend an, der rasch nickte. „Ja, mein Dad hat mich geschlagen und ich will zu meinen Großeltern nach Edinburgh. Seit gestern bin ich hier, aber ich habe Niemanden gesehen. Was soll der Verbrecher denn getan haben und wieso sucht ihr ausgerechnet hier nach ihm? Soweit ich weiß, ist außer mir hier Niemand, aber natürlich kann ich nicht das ganze Schloss kontrollieren", sagte Harry und sah nervös über die Schulter in Richtung Tür. Dom rückte noch etwas näher an Harry heran und flüsterte: „Gestern Nacht wurde im Pub im Dorf die Bardame von einem Mann angesprochen und wachte wenig später allein auf dem Fußboden wieder auf. Sie sagte, er hätte sie vergewaltigt. Ein Nachbar hat drei Gestalten aus dem Pub kommen sehen und unter ihnen eine großgewachsenen Mann mit dunklen, halblangen Haaren erkannt. Laut seiner Aussage, ist der Mann in die Richtung dieses Schlosses gegangen."
„Und wir wollen ihn jetzt suchen und zur Rede stellen. Solche Kerle müssen zur Strecke gebracht werden, damit sie nicht auch noch in anderen Dörfern ihr Unwesen treiben." Mit diesen Worten griff er bedeutungsschwer in seine Tasche und zog ein Klappmesser hervor. „Die Bardame ist meine Schwester und ich werde mich dafür rächen, dass der Kerl ihr Ehre in den Dreck gezogen hat." Harry nickte nur. Jetzt wusste er, wieso die Jungs hier waren und das Beste wäre wohl, ihnen eine Lügengeschichte vom Feinsten aufzutischen, damit sie das Gebäude schnell wieder verließen. Dadurch wären sowohl die Vampire als auch ihre Jäger in Sicherheit.

Umzug mit Folgen IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt