50. Ausgeflocktes Blut

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Als das Gebäude mit der roten Ladenfront endlich in Sichtweite war, rannte Harry los. Er kümmerte sich nicht darum, dass er vielleicht etwas schneller lief als gewöhnlich, das Allerwichtigste war, dass er jetzt zu Louis kam.

Er stieß die Eingangstür so heftig auf, dass beinahe das Glas zu Bruch ging und fand sich dann Eve gegenüber, die in einem Sessel saß und den Eindruck machte, auf ihn gewartet zu haben. „Wo ist Lou?", fragte Harry, ohne sie zu begrüßen, was sie ihm nicht übel nahm. Statt einer Antwort, deutete sie zu der schmalen Treppe.

Harry rannte an ihr vorbei, hetzte die Treppe hinauf und fand in der ersten Etage nur eine Tür angelehnt. Mit vor Aufregung ganz trockenem Mund trat er näher, drückte sie etwas weiter auf und trat ein.

Er kam sich fast so vor, als hätte er ein altmodisches Arztzimmer betreten.

Um einen Behandlungstisch standen so viele Leute herum, dass man Louis kaum sehen konnte.

Richard, der mit einem Klemmbrett vor einem Glaskolben stand, hatte sich eine Brille aufgesetzt und starrte mit konzentrierte Miene auf die Markierungen. Mit leichtem Schaudern erkannte Harry, dass Louis Arm schlaff vom Tisch baumelte und ein feines Rinnsal Blut durch einen dünnen Schlauch in seiner Ader in den Glaskolben hinein sickerte. Gegenüber von Richard, auf Louis' rechter Seite, hatten sich Diana und Lottie mit einer Infusion direkt mit Louis verbunden. Die Mädchen sahen müde aus und hatten den Blick abgewandt. Adam war auch da, hatte Richard mit den Augen fixiert und hielt die Hände erwartungsvoll über die Kanülen in den Armen der Mädchen. Harry kam es vor, als würden alle auf ein Kommando warten. „Uuund Stop!", sagte Richard laut und Adam trennte die Verbindung der Mädchen zu Louis. Rasch drückten sie sich einen Stofffetzen auf den Arm und verließen langsam das Zimmer. Als sie Platz machten, erhaschte Harry endlich einen Blick auf Louis: seine Augen waren halb geschlossen, als befände er sich in einer Art Trance. Die Lider flackerten, ansonsten bewegte er sich überhaupt nicht.

„1,5 Liter weniger", sagte Richard, hob den Glaskolben gegen das Licht und besah sich Louis' Blut. Es war ganz braun und ausgeflockt, sah äußerst ungesund aus und Harry verzog das Gesicht.

Zwar wollte er die Konzentration im Raum ungern unterbrechen, doch er musste unbedingt wissen, was jetzt mit Louis war. „Was macht ihr mit ihm?", fragte er vorsichtig, als er das Gefühl hatte, nun nicht mehr zu stören. Richard notierte sich etwas auf dem Klemmbrett und stellte dann den Glaskolben auf einen Beistelltisch, bevor er sich Harry zuwandte. „Wir führen einen Blutaustausch durch", erklärte der alte Vampir „Diana und Lottie haben dieselbe Blutgruppe und deswegen gerade gespendet. Dadurch dass wir Louis gleichzeitig eigenes Blut entnommen haben, hat er nun mehr gesundes Blut im Körper. In zwei Stunden werden wir diese Prozedur wiederholen, bis sich das infizierte Blut soweit verdünnt hat, dass es keine Gefahr mehr darstellt."

„Wieso erst in zwei Stunden?", fragte Harry, trat an Louis heran und strich ihm durch die Haare und über die Tattoowierungen an seinem Hals. „Lottie und Diana müssen sich erholen. Sie haben beide etwa 700ml gespendet, das ist recht viel, aber wir brauchen noch mindestens das Doppelte von ihnen und leider kommen nur diese beiden infrage. Alle anderen hier im Haus haben eine andere Blutgruppe und wenn wir ihres nähmen, dann verklumpt es sich und Louis hätte keine Chance mehr", erklärte Richard und Harry schluckte. „Ist das denn machbar, dass er zwei Stunden mit diesem Blutgemisch im Körper...überlebt?" Eigentlich wollte er die Antwort gar nicht wissen, doch die Frage hatte er stellen müssen. Der alte Vampir zuckte die Schultern: „Wir wissen es nicht genau, aber wir behalten ihn ja unter Beobachtung und sollte es ihm schlechter gehen, dann müssen die Mädels eben nochmal etwas früher ran." - „Kann ich solange bei ihm bleiben?", fragte Harry und zog sich einen Stuhl heran, als Richard genickt hatte.

Louis' Hand war kühl, als er sie umfasste und mit dem Daumen immer wieder über die Haut strich. Die Vorstellung, dass das Blut in seinem Körper ausgeflockt und seltsam verfärbt war, machte Harry Angst. Würde Louis' Kreislauf denn überhaupt noch richtig funktionieren? Er beugte sich ein wenig vor, um sich die offenen Wunden in seinem Gesicht anzusehen. Ob das jemals wieder richtig verheilen würde? Harry hatte keine Ahnung, wie gut die Wundheilung bei Vampiren war. Eine Hand legte sich auf seine Schulter und er zuckte zusammen. Dass Adam noch da war, hatte er ganz vergessen und sah zu ihm auf. Der dunkelhaarige Vampir, der sonst so unnahbar wirkte, drückte ihn leicht, seufzte und sagte leise: „Er wird wieder, da bin ich mir sicher. Richard ist erfahren und weiß viel, was unsere Spezies angeht. Mach dir keine Sorgen."

„Und was ist mit den Verletzungen?", fragte Harry und deutete auf die tiefen Wunden, die die Blasen in Louis Gesicht hinterlassen hatten. „Bist du auch sicher, dass das wieder weggeht?" Er sah zu Adam hoch und hoffte, er würde ihn für diese Frage nicht höhnisch ansehen. „Mit Sicherheit wird er Narben davontragen, aber die können manchmal ganz nützlich sein und als Erinnerung für etwas stehen. Dein Louis wird sich in Zukunft sicherlich zweimal überlegen, ob er Jemanden anfällt, der ein wenig kränklich aussieht. Was ihm hier passiert ist, wird ihm eine Lehre sein." Ein mildes Lächeln umspielte Adams Lippen und er strich Harry über den Kopf – es war eine ungewohnte und sehr väterliche Geste und für den Vampir total untypisch.

„Hör zu: Eve und ich werden weiterziehen, sobald wir wissen, dass Louis über dem Berg ist. Du hast deine Freunde wieder gefunden und brauchst unsere Hilfe nun nicht mehr. Unsere Aufgabe in dieser Geschichte ist erfüllt." Er sagte das ganz ruhig und Harry richtete sich überrascht auf. Dass die beiden London wieder verlassen wollten, damit hatte er nicht gerechnet und die Neuigkeit erwischte ihn kalt. „Ihr wollt gehen? Aber hier bei Richard seid ihr versorgt..." - „...aber auch vollkommen von ihm abhängig und das war etwas, das Eve und ich immer abgelehnt haben. Das ist nicht so wirklich unser Ding", sagte Adam und lächelte. Er schien es keineswegs zu bedauern, dass er und Eve London bald verlassen und Harry auf Wiedersehen sagen mussten. Vielleicht war er aber auch schon zu alt, um sich sonderlich viel aus Verabschiedungen zu machen. Harry hingegen, der immer das Gefühl gehabt hatte, Adam auf die Nerven zu gehen, stiegen nun plötzlich die Tränen in die Augen und er schluckte. Er mochte seine beiden Begleiter lieber, als er zugeben wollte und die Vorstellung, dass sie bald gehen würden, tat weh. „Ihr seid nur meinetwegen nach London gegangen?", fragte er mit erstickter Stimme und wandte sich nun ganz dem Vampir zu. „Ich habe euch so viel zu verdanken. Ohne euch wäre ich nie in London angekommen und du hast Louis das Leben gerettet...dafür werde ich euch immer dankbar sein." Das klang so kitschig, dass Adam auflachte und in die Hocke ging: „Du kannst dein ganzes restliches Leben dankbar sein. Ich habe euch gerne geholfen. Wir müssen doch alle zusammenhalten. Außerdem hast du mir gezeigt, dass man niemals zu schnell über andere urteilen sollte, was ich in deinem Fall mit Sicherheit getan habe. Du hast deutlich mehr Willensstärke, als ich dir anfangs zugetraut hätte, Harry und du bist an dir selbst gewachsen, während wir gemeinsam unterwegs waren. Das rechne ich dir hoch an." Mit dem Daumen strich er Harry die Tränen von der Wange und stand wieder auf: „Und jetzt achte auf Louis. Eve und ich verabschieden uns noch, wenn wir gehen, also bleib beruhigt hier sitzen."

Jetzt war Harry allein. Allein mit Louis und dem gruseligen Blutgemisch in dessen Körper, dem er nicht so ganz traute. Louis' Finger waren schlaff und kalt, als er sie umschloss und festhielt. Sachte streichelte er die leblose Hand und flüsterte: „Du musst diese zwei Stunden noch durchhalten, hörst du?"

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Instagram: l.c.pfeifer

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