49. Über die Whitehall, zum Picadilly, zurück nach Soho

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Sie wären gerne zügiger gelaufen, aber da sie auffallen würden, wenn sie schneller, als die menschliche Durchschnittsgeschwindigkeit unterwegs waren, mussten die drei sich notgedrungen am Riemen reißen. Harry kam sich vor, als würde er versuchen auf einem Laufband vorwärts zu kommen. Es war nervig, weil er wirklich gerne schneller gegangen wäre, doch immerhin beruhigte ihn das Wissen, dass Adam Louis mitgenommen hatte und die zwei somit sicherlich jetzt schon bei Richard angekommen war, wo man helfen konnte.

„Wo habt ihr meine Spur gefunden?", erkundigte Harry sich, als sie die Commercial Road entlang gingen, die von kleinen Läden gesäumt war, wie damals, als er mit Louis London besucht hatte. „Wir haben dich am Churchill Denkmal gerochen, sind dann die Whitehall rauf zum Picadilly – fast jedes Haus hatte eine Markierung. Du warst wirklich fleißig, Harry." Er nickte und Liam fuhr fort: „Wir haben dann dieses Haus gefunden und es hat uns regelrecht angezogen, noch bevor wir wussten, dass deine Spur genau dort hinein führt. Wir sind dann rein und da saß Adam in einem Sessel. Zuerst war er uns gegenüber sehr forsch - vielleicht hat er uns auf den ersten Blick für Menschen gehalten, die hier nichts zu suchen haben, doch als wir nach dir gefragt haben, schien ihm ein Licht aufzugehen. Er ist aufgesprungen und hat nach einer Eve gerufen. Die tauchte dann in einem Treppenaufgang auf sagte uns, dass du gegangen bist. Sie haben uns allerdings sofort Hilfe angeboten und als wir von Louis' Zustand berichtet haben, tauchte dann noch einer auf. Das war Richard. Er hat aufmerksam zugehört und schien immer besorgter zu werden. Sie haben sich ganz seltsam angeschaut, als wüssten sie etwas, was wir nicht wissen" Harry unterbrach Liam und gab die Geschichte weiter, die Adam erzählt hatte. „Sie hatten schon mal einen Fall von Blutvergiftung. Damals 1665, hatte einer von uns einen Mann gebissen, der mit der Pest infiziert war. Er kam zu Richard und sie mussten zusehen, wie er jämmerlich verreckt ist." Liam blickte ihn geschockt an und auch Zayn schluckte und leckte sich nervös über die trockenen Lippen. Ihre Hände fanden einander und hielten sich fest, dann meinte Zayn zu Liam: „Ich glaube aber, Richard weiß genau, was er zu tun hat...mach dir keine Sorgen." Verdutzt über diese Geste zwischen den beiden, hob Harry eine Augenbraue. Was war denn das? Hatten sich Zayn und Liam etwa wieder auf eine Art und Weise angenähert, wie es vor 51 Jahren zum letzten mal getan hatten? Damit hatte er jetzt ganz und gar nicht gerechnet. Mit der Hand wedelte er zwischen den beiden hin und her und sagte amüsiert: „Also das müsst ihr mir mal erklären." Zu seiner Überraschung schüttelte Zayn den Kopf. „Dazu reicht die verbliebene Wegstrecke nicht aus, aber ich bin mir sicher, dass wir in den nächsten Tagen genug Zeit dafür finden werden, das ganze ausgiebig zu erläutern." Liam gluckste: „Jetzt hast du dich aber gerade ganz schön gewählt ausgedrückt." Zayn zuckte daraufhin nur mit den Schultern, lächelte Liam an und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen.

Irritiert zuckte Harry zusammen, denn er war es gewohnt, dass die beiden sich lieber anpampten. Allerdings war diese neue Entwicklung sehr angenehm und er freute sich, dass die beiden nach so vielen Jahren wieder zueinander gefunden hatten.

Ob Adam schon in Soho angekommen war? Harry wünschte sich eine Uhr, um nachsehen zu können, wie viel Zeit mittlerweile verstrichen war, doch seit dem Krieg war das Wissen über die Herstellung aufziehbarer Uhren nach und nach in Vergessenheit geraten. Zwar gab es sie noch, aber sie waren sehr teuer in der Anschaffung, weshalb nur noch auf wichtigen Plätzen, wie Bahnhöfen oder an Schulen, Uhren zu finden waren.

Sie überquerten den Trafalgar Square, wo heute am Vormittag ein Markt stattfand, weshalb es sehr laut und voll war. Sie schoben sich zwischen Marktkarren und Gemüseständen hindurch, die von den Bauern der Umgebung in die Stadt gebracht worden waren und wichen Schafen und Schweinen aus, die von ihren Besitzern über den Platz getrieben wurden. „Wie geht denn die Geschichte weiter, nachdem ihr bei Richard angekommen seid?", erkundigte sich Harry bei Zayn, als sie endlich den lärmenden Platz hinter sich gelassen hatten. „Nun, als sie von Louis erfahren haben, fing diese Frau an, auf Adam einzureden und Richard hat nach einem Haufen junger Frauen gerufen. Diese Eve sagte so etwas wie: 'Du musst ihn schnell herbringen. Harry hängt so an ihm. Wir haben doch gesehen, wie er gelitten hat und dürfen auf keinen Fall zulassen, dass Louis etwas geschieht.' Adam hat dann geseufzt und meinte nur, dass das ein Trauerspiel wäre, wenn diese Situation einträfe. Ich glaube, die haben dich wirklich gern, Harry. Richard hat dann die ganzen Frauen, die nach seinem Ruf aufgetaucht sind, abgeschnüffelt und nach Blutgruppen sortiert. Das war vielleicht kurios. Sie sollten alles vorbereiten, sagte er und dann sind sie davongerannt. Da waren Mädchen dabei, die vielleicht grade mal 12 Jahre alt waren..." Harry erklärte Zayn, dass Richard Frauen als Blutspender beschäftigte und seine beiden Freunde sahen ihn vollkommen baff an. „Die...die lassen sich freiwillig beißen? Wie krank ist das denn?" Zayn klang, als wäre er sicher, Harry nahm ihm gerade auf den Arm., also erklärte Harry es genauer: „Naja, im Gegenzug für ihre Dienste, dürfen sie umsonst in dem Haus leben, was mit Sicherheit heutzutage purer Luxus ist, wenn man bedenkt, wie klein und heruntergekommen alles in London ist."
Sie ließen einen Pferdekarren vorbei und überquerten dann die Picadilly. Von dort bogen sie in eine Straße ein, die früher einmal für die gehobenere Klasse gedacht war und Läden von Gucci, Prada und Yves Saint Laurent beherbergt hatte.

Bis Vampirhotel war es nicht mehr weit und in Harry wuchs wieder die Anspannung. Bisher hatte er sich von seiner Sorge um Louis ganz gut ablenken können, doch jetzt machte sie sich wieder in ihm breit. „Es wird ihm gut gehen, da bin ich sicher. Richard hat vorhin ja alle Hebel in Bewegung gesetzt und er sieht so aus, als wüsste er genau, was zu tun ist. Sicherlich haben sie schon angefangen mit was auch immer es braucht, um Louis zu heilen", beruhigte ihn Zayn, der Harrys Bedenken gespürt haben musste. Mit zusammengekniffenen Lippen nickte Harry und blickte in die leeren Schaufenster. Er spiegelte sich in der Scheibe und während er sich musterte, stellte er fest, dass ihm ein deutlich erwachsenerer Harry entgegenblickte. Obwohl er natürlich immer im Körper seines 17 Jährigen Selbst gefangen sein würde, war er im Kopf mittlerweile reif geworden. Vielleicht hatte die Reise, die er mit Adam und Eve zurückgelegt hatte, dazu beigetragen. Oder die Gewalt, die er in der Zeit gegenüber Menschen erlebt und vollführt hatte. Jedenfalls waren seine Augen nicht mehr so naiv, wie noch vor wenigen Wochen. Sie blickten jetzt kämpferisch und entschlossen und wenn er ehrlich war, dann gefiel er sich so ganz gut. Wenn man als Vampir schon nicht körperlich wachsen konnte, dann wenigstens geistig.

„Harry, kommst du?", riss Zayn ihn aus seinen Gedanken und er beeilte sich ihnen nachzukommen, denn seine Freunde waren bereits an der nächsten Hausecke angekommen.

Weit war es nicht mehr zum Vampirhotel.

Zum Glück.

Umzug mit Folgen IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt