7. Die Schlinge zieht sich zu

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Irgendwann waren die staatlichen Unterstützungen gestrichen worden und die Blutbanken hatten eine nach der anderen geschlossen. Für die Vampire war es immer enger geworden, an ihren Nachschub zu kommen, zumal sie nun ja auch noch 4 Münder zu stopfen hatten. Obwohl Louis sich anfangs gegen das Tierblut gewehrt hatte, hatte der Hunger ihn irgendwann doch überstimmen können und so waren sie immer abwechselnd in den Wald gegangen und hatten dort "eingekauft".

Der Himmel wurde heller und heller und Harrys Augen glitten über die Dächer der Stadt und er fasste einen Entschluss: obwohl er sich sicher war, dass Louis und seine Freunde die Stadt mittlerweile verlassen hatten, wollte er nicht gehen, bevor er nicht jede Straße nach ihnen abgesucht hatte.

Seinen Plan setzte Harry um, als es zu dämmern anfing. Den ganzen Tag über hatte er sich auf der Burg in dunklen Ecken herumgedrückt und darauf gewartet, dass die Sonne wieder unterging. Und als es endlich soweit war, entfernte er sich wieder von der Burg und erklomm das erste Dach der Altstadt. Hier oben war die Luft frischer und besser. Wenn sein Geruchsinn ihn nicht im Stich ließ, dann würde es ihm hoffentlih gelingen, die Fährte seiner Freunde wieder aufzunehmen, wenn er die Straßen ablief, indem er von Haus zu Haus sprang. So zumindest war sein Plan. Geduckt, aber mit schnellen Schritten lief Harry los und sog dabei schnell die Luft durch die Nase ein. Er roch alles mögliche: vermoderte Erde, Abfall aus verfaulenden Lebensmitteln, Fleisch das Jemand zum Ausbluten nach Draußen gehängt hatte. Blitzschnell überwandt Harry die schmalen Abstände zwischen den hohen Häusern der Altstadt und brachte so Distanz zwischen sich und die Burg. Das Unterfangen war umständlich und aufwändig, doch eine andere Lösung gab es im Augenblick nicht und so arbeitete er sich im ZickZack immer weiter den Berg hinunter, lief jede Straße ab und hoffte, im Abendwind einen Hauch seiner Freunde erschnüffeln zu können. Doch es gab nichts und Harrys Hoffnung wurde schnell kleiner und er musste sich regelrecht dazu zwingen, weiter zu laufen. Sonderlich erfolgversprechend schien das Ganze nicht zu werden.

Schneller, als es ihm lieb gewesen war, hatte er die Grenze zur Neustadt erreicht und setzte sich frustriert auf einen Kamin und blickte hinauf zum Mond. Heute war er nicht mehr ganz so voll, wie gestern, doch er schien grell am wolkenlosen Himmel und die ganze Stadt lag in bläulich-grauem Licht. Finster blickte Harry zum Edinburgh Castle hin, das gespenstisch und verlassen auf dem Berg stand und zum ersten Mal wünschte er sich, damals im Globe Theater gestorben zu sein. Natürlich hätte Louis gelitten und auch seiner Familie hätte er damit sicherlich große Schmerzen zugefügt. Aber wenn er gestorben wäre, dann müsste er jetzt nicht auf einem Dach sitzen und seinen Freund suchen. Der Gedanke war absolut hirnrissig und kindisch, das wusste er selbst und musste sogar kurz selbst darüber grinsen. Doch dann verschlechterte sich seine Stimmung wieder und er kniff die Lippen zusammen. Ihm war zum Heulen zumute, denn wie es aussah, hatten die Jungs die Stadt wirklich verlassen. "Wieso habt ihr nicht auf mich gewartet?", knurrte Harry und ballte die Hände zu Fäusten. Plötzlich fühlte er eine Hitze unter sich und sprang rasch auf die Beine: der Kamin, auf dem er gesessen hatte, war angefeuert worden und der heiße Rauch war nach Oben gestiegen. Als Mensch hätte er sich gerade vielleicht den Allerwertesten verbrannt. Neben dem Kamin stehend sah er den Rauchschwaden nach und hörte plötzlich Stimmen. Im Wohnzimmer, das an den Kamin angrenzen musste, unterhielten sich Menschen miteinander. Neben dem Kamin in die Knie gehend, lauschte er. Eine Frau sprach. Sie klang unsicher und ein wenig verängstigt. "Du hast den Männern also eine Lüge erzählt, weil der Vampir dich dazu gezwungen hat? Oh wie konntest du nur Phil." Den jungen Mann, der nun antwortete, erkannte Harry sofort: es war der einzige Überlebende aus dem Kampf in der Wohnung gewesen. Wie es schien, hatte er sich seiner Mutter anvertraut. "Mum, ich konnte nicht anders. Er hat mich im Gegenzug dafür am Leben gelassen. Irgendwie war ich ihm das doch schuldig." - "Himmel nochmal Phil. Du hast zugelassen, dass ein Vampir frei in der Stadt herumläuft und seine Kumpane auch. Wie kannst du das mit deinem Gewissen vereinbaren, wenn durch sie noch mehr Menschen umkommen? Wenn du ehrlich gewesen wärst, dann hättest du das verhindern können." Die Frau schien ernsthaft darüber enttäuscht zu sein, wie ihr Sohn gehandelt hatte und seufzte: "Ich muss es deinem Vater sagen. Er wird nicht ruhen, solange die Vampire nicht gefangen und getötet wurden. Los, beschreibe sie mir so gut du kannst, dann werde ich eine Zeichnung anfertigen und wir können überall in der Stadt Plakate aufhängen lassen. Lange wird er sich nicht verbergen können." Harry, der noch immer am Kamin lauschte spürte, dass sich die Schlinge um ihn langsam enger zu ziehen schien. Hier konnte er nicht bleiben. Sobald die Männer, die dem Vampirmob angehörten, davon Wind bekamen, dass sie alle noch am Leben waren, wäre Edinburg kein sicherer Ort mehr.

Mit dem Wissen, dass er die komplette Altstadt abgesucht und seine Freunde nicht gefunden hatte, stand Harry wieder auf und schlitterte das steil abfallende Dach hinunter. Kurz vor der Kante sprang er kraftvoll ab und landete im Astwerk eines Baumes, der etwa 20 Meter entfernt wuchs. Die Blätter raschelten leise, als er sich einen Weg nach Unten bahnte. Da es nicht so aussah, als würde er so schnell wieder zurückkommen, dachte er kurz darüber nach, noch einmal zurück in die Wohnung zu gehen. Vielleicht hatte er ein paar kleine Habseligkeiten oder persönliche Lieblingsgegenstände übersehen und sollte diese lieber noch holen, doch dann fielen ihm die vielen Leichen ein, die er in der Küche zurückgelassen hatte. Sicherlich waren Bestatter damit beschäftigt, sie alle zu bergen und er ziemlich dumm, sollte er zurück kehren. Trozdem beschloss er, sich wenigstens in die Straße zu begeben, in der die Wohnung lag, um dort ein wenig Markierungen zu hinterlassen. Vielleicht waren sie ja noch zu etwas gut.

Nachdem er sich an mehreren Bäumen gerieben hatte, machte sich Harry auf den Weg hinaus aus der Stadt. Im Abstand von wenigen hundert Metern drückte er sich an Bäume, Mauern und Hauswände, damit diese seinen Geruch annahmen und Louis und die Jungs der Fährte gegebenenfalls folgen konnten, sollten sie nochmal herkommen, um ihn zu suchen.

Es war sehr traurig, dass er nun wirklich die Stadt verlassen musste und Harry wurde immer langsamer, je näher er der Stadtgrenze kam. Obwohl Edinburgh recht düster war, weil die Gassen eng und die Häuser aus dunklem Stein gebaut waren, mochte Harry diese Stadt gerne. Hier hatte er die Liebe seines Lebens kennengelernt, hatte ein neues "Leben" begonnen – und nun vielleicht auch alles wieder verloren.

Mit Tränen in den Augen trat Harry am frühen Morgen über die Grenze der Stadt. Vor ihm lagen nun hügelige Felder, einsame Bauernhöfe und Wälder, verlassene Dörfer und Straßen, die auch schon bessere Tage gesehen hatten.

Umzug mit Folgen IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt