12. Kapitel

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Es fühlte sich an wie Fliegen.

Der Wind spielte mit meinen langen Haaren. Das zerfetzte Kleid wurde herumgewirbelt und schlug sanft gegen meine erschöpften Beine. All meine Gedanken wurden unwichtig. Es herrschte nichts als Leere in mir. Eine zarte Leere. Völlig unbeschwert.

Der schwerelose Fall wurde jedoch von einem heftigem Aufprall unterbrochen. Alles schien auf einmal zu mir zurück zu kommen. Mein eigenes Gewicht ließ mich wanken und durch den Aufprall knicken meine Beine unter mir weg. Ich bekam keine Luft mehr. Schwarze Punkte bildeten sich in einem Sichtfeld. Alles schien verschwommen. Teilnahmslos starrte ich die Mauer vor mir an. Ein heißer Schmerz in meinem rechtem Bein holte mich in die Wirklichkeit zurück. Keuchend rappelte ich mich auf und stützte mich an der steinernen Wand ab. Mühsam tat ich den ersten Schritt. Und wankte. Mir wurde schwindelig. Alles drehte sich. Mein Bein knickte erneut unter mir ein. Ich kam wieder hoch. Ein einziger Gedanke beherrschte mich: Flucht. Ich fing an zu rennen. Immer weiter und immer weiter. Hinter mir hörte ich Stimmen. Im Laufen drehte ich mich ein letztes Mal um. Zwei der feindlichen Männer standen auf dem Wehrgang und beobachteten meine mühsame Flucht. Der Dritte hielt Timus an die Turmwand gepresst. Den vierten Mann sah ich schon wieder nicht. Panisch suchte ich mit den Augen alles ab. Und dort oben stand er. Mit Pfeil und Bogen. Gerade rechtzeitig hatte ich ihn entdeckt, denn das erste Geschoss flog gerade auf mich zu. Im letzten Moment ließ ich mich auf den Boden fallen. Nur noch ein Lufthauch spürte ich, dann war die Gefahr für den Moment vorüber. Ich war nicht getroffen worden. Mit letzter Kraft kam ich wieder hoch und taumelte weiter. Weitere Pfeile flogen an mir vorbei. Keiner traf. Atemlos hetze ich voran. Fast am Waldrand angekommen musste ich das Tempo drosseln. Direkt am Baum vor mir schlug ein Pfeil ein und vibrierte noch eine kurze Zeit nach. Vor Schreck blieb ich stehen.

Ein sehr großer Fehler. Etwas traf mich in der linken Seite und schleuderte mich nach vorn. Ein nur allzu bekannter Schmerz trat ein und nahm mir den letzten Atem den ich noch hatte. Warmes Blut rann nun auch dort herunter. Fast ohnmächtig vor Schmerz stolperte ich in dem rettenden Wald. Den Pfeil zog ich mit einem Ruck aus meiner Seite und hielt einen Stoffetzen auf die Wunde, um den Blutfluss zu stoppen. Den Schmerz merkte ich schon nicht mehr. Dann setzte ich einen Schritt nach dem nächsten.

Immer weiter.

Ich folgte einem unsichtbarem Pfad, den niemand sehen konnte. Wie in Trance durchquerte ich einen kleinen Bach und ging um große Felsen herum.

Einfach nur weg von diesem Ort. Nie wieder in sein Gesicht blicken müssen.

Irgendwann hatte ich wieder genug Atem, um in einen unregelmäßigen Laufschritt zu verfallen. Mich wunderte, warum mich noch niemand von Samuels Wachen eingeholt hatte. Doch diesen Gedanken ließ ich schnell wieder fallen. Nichts durfte mich jetzt noch von meinem Vorhaben ablenken. Also versuchte ich einfach an nichts zu denken. Einfach weiterlaufen. Immer weiter.

Nach einiger Zeit blieb ich stehen. Ich konnte einfach nicht mehr. Komplett am Ende meiner Kräfte ließ ich mich langsam auf den weichen, mit Moos bedeckten Waldboden sinken. Mein Kopf fiel auf mein Brustbein meine Augen fielen mir zu. Erschrocken zuckte ich zusammen.

Ich durfte doch hier jetzt nicht einfach schlafen! Für die Fluchtmöglichkeit hatten mehrere Menschen ihr Leben riskiert und ich saß hier einfach rum und mir fiel nichts besseres ein als schlafen?

Irgendwie schaffte ich es wieder hochzukommen. Ich stützte mich an Bäumen ab und kam quälend langsam voran. Aber wenigstens kam ich überhaupt voran. Nach ungefähr 100 Metern tauchte vor mir eine unscheinbare Höhle auf.

Mein Rettung! Dort würden mich die Männer nicht so schnell finden...

Ich raufte meine letzten Reservekräfte zusammen und fing noch ein letztes Mal an zu laufen. Doch dann passierte es: Ich stolperte kurz vor den versteckten Eingang und knallte mit dem Kopf gegen die Steinwand.

Alles drehte sich, dann wurde es langsam dunkel um mich herum. Mein Körper berührte den Boden und dann übermannt mich die angenehme Dunkelheit. Alle Schmerzen waren wie weggeblasen.

Endlich ausruhen...


Ein sanfter Geruch nach frischen Tannennadeln und Erde drang in meine Nase. Langsam öffnete ich die Augen. Helle Sonnenstrahlen blendete mich für kurze Zeit. Dann konnte ich wieder etwas erkennen.

Ich lag in einer Art Bett. Vorsicht blickte ich mich weiter um. Anscheinend war ich hier in einer Höhle. In der Nähe von mir war eine Art Eingang, wodurch helles Licht fiel. Draußen konnte ich hohe Tannen und Laubbäume ausmachen. Dort wo ich herkam, war der Wald ausschließlich aus Laubbäumen gewesen. Also musste ich woanders sein.

Was war passiert? Ich erinnerte mich nur noch bruchstückhaft an das Geschehene.

Eine angenehm leise Stimme ließ mich aus meinen Überlegungen aufschrecken.

,,Du bist aufgewacht."

Ich drehte mich um. Dort hinter mir stand ein Mann, in eine Art Robe gekleidet. Sein Gesicht war mit Falten überzogen, aber auch wieder nicht. Er sah alt und weise aus, aber gleichzeitig auch noch kräftig und stark. Sein Alter war sehr schwer einzuschätzen.

,,Ich... ja. Wer sind sie? Wo bin ich?", fragte ich sehr verwirrt.

,,Ich bin Zen. Ein Mönch Shaidans. Und du bist hier bei mir Zuhause."

,,Wer ist Shaidan?"

,,Das kann ich dir auch noch wann anders erzählen, kiimo alea. Wie heißt du?"

Skeptisch blickte ich in seine kristallklaren Augen. Sie hatten die Farbe von reinen Saphiren. Er hatte mich kiimo alea genannt. Und er hatte angedeutet das ich länger bleiben würde. Wer war er?

Der Mönch bemerkte mein Zögern und nickte.

,,Es ist in Ordnung. Du musst mir noch nicht vertrauen. Aber du solltest wissen, dass ich dich bewusstlos gefunden habe und deine ganzen Wunden versorgt habe. So etwas würde doch kein Feind machen, oder? Ich weiß nicht woher du diese ganzen Wunden hast kiimo alea, aber solche Verletzungen bekommt man nicht einfach mal so im Wald. Außerdem kamen kurze Zeit später einige Wachen von Großherzog Samuel durch die Gegend spaziert und schienen etwas zu suchen. Hierher sind sie zum Glück nicht gekommen, jedoch haben sie nicht aufgegeben, das kannst du mir glauben."

Bei seinen Worten blieb mir das Herz für kurze Zeit stehen.

Sie suchten mich. Immernoch.

Wie viel Zeit er vergangen? Der Mönch wirkte nicht wie ein Feind. Auch als er das mit den Wunden gesagt hatte, war mir aufgefallen, dass mein Rücken verbunden war. Ebenso wie meine Hüfte und mein Bein. Konnte ich diesem Mann vertrauen? Ich wusste es nicht. Doch irgendein Bauchgefühl sagte mir, dass er nichts Böses im Schilde führte. Ich hob meinen Blick und sah direkt in die Augen von dem Mönch. Ein Schauer lief über meinen Rücken und ein warmes Prickeln setzte kurz über der Stirn ein. Dieses Prickeln war nicht unangenehm. Es war nur ungewohnt. Noch immer sahen wir uns in die Augen. Und kamen zu einem stillen Einverständnis. Sekundenlang passierte gar nichts. Dann hob ich meine Stimme.

,,Leah. Mein Name ist Leah."

Der Segen der ZeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt