13. Kapitel

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Karol

      »S'il vous plaît«, sagt der ältere Herr hinter dem Informationsstand und übergibt mir eine Waage. Nach einigen Minuten, in denen ich die Zeichensprache angewendet habe, hat er verstanden was ich suche.
      Glücklich gehe ich wieder auf den Lift zu und warte, bis er unten ankommt. Als die Türen aufgehen, erblicke ich einen aufgeregten Ruggero im Lift. Sein Blick fällt auf mich und man merkt, dass ihm ein Stein vom Herzen fällt. Verwirrt stehe ich immer noch an der gleichen Stelle und sehe ihn aus grossen Augen an.
      Er zieht mich am Handgelenk wieder in den Lift rein und drückt den Kopf, der uns zu unserem Stock fährt. »Karol, verschwinde bitte nie mehr einfach so«, beginnt er und sieht mir dabei direkt in die Augen. »Es macht einen seltsamen Eindruck, wenn du von der einen Sekunde auf die Andere verschwindest und die Türe sperrangelweit offen steht.« Sein Blick ist dabei so eindringlich, dass es mir die Luft zum Atmen nimmt. Der Raum im Lift erscheint mit plötzlich viel kleiner als sonst und ich sehe nur noch seine Augen, die ich mich mit einer Wärme anstrahlen, wie ich sie noch nie gespürt habe.
      Ich reisse mich von seinen Augen los und halte die Waage in die Höhe. »Wenigstens habe ich jetzt eine Waage.« Augenverdrehend schüttelt er seinen Kopf und tritt aus dem Lift heraus. Als wir in unserem Zimmer ankommen, stelle ich die Waage auf den Boden.
      »Also normalerweise wiege ich 52 Kilo«, gebe ich bekannt und schalte die Waage an.
      »52?«, fragt Ruggero mit gerunzelter Stirn. Ich nicke und gehe nicht weiter auf die Bemerkung drauf ein.
      Gerade als ich einen Fuss drauf setzen will, hält Ruggero mich zurück. »Um was wetten wir?«, fragt er siegessicher. »Also ich bleibe bei meinen fünf Gramm und du bei fünf Kilo, oder?«
      Ich nicke und überlege. »Einfach irgendwas. Der Gewinner darf sich dann aussuchen, was er bekommt.« Ruggero scheint mit meinem Vorschlag Einverstanden zu sein. Er stellt sich dicht hinter mich. So dicht, dass ich seinen Atem an meinem Nacken spüre. Macht er das Extra? Augenblicklich breitet sich dort eine Gänsehaut aus, woraufhin ich schnell auf die Waage steige. Nach einigen Sekunden zeigt die Waage 52,8 Kilo an.
      »Gewonnen!«, ruft Ruggero und tritt vor mich hin. Ich verdrehe lediglich meine Augen und steige wieder von der Waage runter. »Vielleicht waren fünf Kilo doch ein bisschen übertrieben«, murmele ich leise. Nachdenklich sieht er mich an und kommt auf mich zu. Bei jedem Schritt, mit dem er sich mir nähert, klopft mein Herz schneller. Er sieht auf einen Punkt hinter mir und nickt leicht. »Wie wäre es, wenn wir einen Film schauen?« Da ich nichts dagegen einzuwenden habe, nicke ich und folge ihm in sein Zimmer. Er meint, er hätte ein paar DVDs eingepackt. Wieso nimmt man die mit? Also ich persönlich hätte nie in meinem Leben daran gedacht.
      Nach einer langen Diskussion entscheiden wir uns für 21 Jump Street. Ich wollte den Film schon immer mal sehen, aber irgendwie hatte ich bis heute keine Möglichkeit dazu. Wir laufen in das Wohnzimmer und ich lasse mich auf das Sofa fallen. Ich konnte leider noch nicht testen, wie bequem das Sofa ist, doch jetzt, als ich draufsitze, frage ich mich, wieso ich vorher auf meinem Bett geschlafen habe. Ich meine, dieses Sofa ist besser als jedes Bett, auf dem ich je in meinem Leben geschlafen habe. Völlig begeistert von dieser Couch, bemerke ich gar nicht, dass Ruggero mich fast schon besorgt ansieht. »Karol? Geht es dir gut?«, fragt er schliesslich.
      Ich richte meinen Kopf auf und nicke enthusiastisch. »Dieses Sofa ist einfach so bequem«, sage ich seufzend und lege mich hin.
      »Okay«, höre ich ihn noch sagen. Dabei zieht er das Wort fragend in die Länge.
      Ich lache kurz und schliesse dann meine Augen. »Ich gehe schnell runter. Man muss irgendwie Bescheid geben, wenn man den DVD-Player benutzen will, oder so.« Kurz öffne ich meine Augen, um ihm zu zeigen, dass ich ihn gehört habe und schliesse sie dann wieder. Ein kaum hörbares Seufzen entgleitet mir und ich höre, wie er die Tür hinter sich schliesst, als er die Suite verlässt. Kaum ist er nicht mehr im gleichen Raum wie ich, beginnen meine Gedanken nur noch um ihn zu kreisen. Was ist das zwischen ihm und mir? Unser Kuss vor einigen Wochen geht mir nach wie vor nicht aus dem Kopf. Das Gefühl von seinen Lippen auf meinen lässt mich erschaudern. Alleine schon der Gedanke daran raubt mir all meine Sinne. Was ist nur mit mir los, dass ich mich so dermassen in ihn verliebt habe? Und wie kann ich das stoppen? Denn ich denke, dass er mir genug deutlich gesagt hat, dass er nichts für mich empfindet. Er hat mich persönlich darum gebeten den Kuss zu vergessen. Wenn er das wortwörtlich gemeint hat, dann muss ich ihn bitter enttäuschen. Meine Gedanken sind vierundzwanzig Stunden am Tag um diesen Kuss gekreist. Und immer wieder kamen mir Zweifel, ob er wirklich nichts für mich empfindet. Zum einen verstehe ich einfach nicht, wieso er mich geküsst hat. Vor allem die Art, wie er mich geküsst hat. Mit so einer Intensivität, wie ich sie noch nie erlebt habe. Zum anderen aber, frage ich mich, wieso er sich für so jemanden wie mich interessieren würde. Schliesslich bin ich sechs Jahre jünger als er.
      Das Klicken der Tür unterbricht meine Gedanken und Ruggero tritt in das Zimmer herein. Ich habe gar nicht gemerkt, dass der Fernseher von alleine angeschalten worden ist. Er kniet sich hin und stellt irgendetwas ein. In der Zeit, in der er den Rest noch einstellt, stehe ich auf und laufe zum Kühlschrank. Als ich ihn aufmache, staune ich nicht schlecht. Grösstenteils Süssgetränke. Jedoch habe ich im Moment wenig Lust auf noch mehr Kalorien, weshalb ich mir einfach eine Flasche Wasser nehme.
      »Was willst du trinken?«, frage ich.
      Er sieht kurz zu mir, um zu schauen, was im Kühlschrank drin ist. »Cola«, sagt er schliesslich und ich nehme sie ebenfalls heraus. Ich schliesse den Kühlschrank nicht sofort, sondern sehe noch nach, ob vielleicht noch irgendetwas Essbares drinnen ist, jedoch finde ich nichts. Mit einer schnellen Bewegung schliesse ich die Tür und drehe mich um. Ohne Vorwarnung krache ich ihn Ruggero herein und mir fallen beide Flaschen aus der Hand. Meine Aufmerksamkeit gilt aber nur seinen Augen, die mich fesseln.

Ruggarol - Verlorene ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt