48. Kapitel

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Ruggero 

Unser letzter freier Tag zieht nur so an mir vorbei, ohne, dass ich Karol auch nur einmal zu Gesicht bekomme. Wo treibt sie sich die ganze Zeit rum?
                Zusammen mit allen anderen sitze ich an einem grossen Tisch und stopfe mich mit Spaghetti voll. In den letzten Tagen konnte ich viel von der Stadt Mexiko sehen, jedoch ohne Karol. Sie hat immer eine Ausrede gefunden, nicht nach draussen zu gehen. Wie sollte ich mir da bitte keine Sorgen um sie machen?
                Lucia habe ich seit diesem Tag, an dem sie versucht hat, mich zu küssen, nicht mehr gesehen. Ich hatte sowieso nicht das dringende Bedürfnis sie noch einmal zu sehen.
                Lio, der neben mir sitzt, rammt mir einen Ellbogen in die Rippen.
                »Autsch«, rufe ich und ziehe scharf die Luft ein. Das hat echt wehgetan.
                Er lacht. »Dann hör mir das nächste Mal zu, wenn ich mit dir rede.« Bevor ich überhaupt etwas darauf erwidern kann, redet er weiter. »Hast du Karol in den letzten Tagen gesehen?«
                Ich schüttele meinen Kopf. »Nein.« Synchron beginnen wir zu Seufzen. »Nur Ana und Chiara haben ab und zu mit ihr geredet«, füge ich noch hinzu.
                »Ich weiss. Hoffentlich geht es ihr gut«, sagt er.
                Spöttisch ziehe ich meine Augenbrauen in die Höhe. »Sie ist seit Tagen nicht aus ihrem Zimmer herausgekommen. Natürlich geht es ihr nicht gut«, erwidere ich fast schon wütend.
                Mit hochgezogenen Augenbrauen sieht er mich an. »Sorry«, murmelt er leicht erschrocken.
                »Entschuldige«, antworte ich und fahre mir durch meine Haare. »Ich glaube, ich gehe mal zu ihr.«
                »Mach das«, sagt er und klopft mir auf die Schulter.
                Ich schiebe meinen Stuhl nach hinten und stehe auf. Nachdem ich den ganzen Saal durchquert habe, biege ich nach links ab und nehme die Treppe, die in den ersten Stock führt. Es dauert weniger lang die Treppe zu nehmen, als auf den Lift zu warten.
                Vor ihrem Zimmer fülle ich meine Lungen mit genug Luft und drücke dann schliesslich auf die Klingel. Wie ich erwartet habe, öffnet sie die Tür nicht. Also versuche ich auf gut Glück die Türklinke runterzudrücken und siehe da – sie geht auf. Wer von ihnen lässt bitte die Tür offen?
                Kopfschüttelnd trete ich ein und sehe die verschiedenen Zimmer durch. Bei einem ist die Tür geschlossen, weshalb ich vermute, dass das, das Zimmer von Karol ist. Auch hier trete ich über die Türschwelle, jedoch finde ich keine Karol vor. Merkwürdig. Wo sie wohl ist?
                Ich gehe raus und schliesse auf dem Gang die Tür hinter mir zu. Mit hängenden Schultern nehme ich mir vor, morgen nochmal nach ihr zu suchen.
                Wieder unten angekommen, sehen mich alle fragend an. Ich schüttele den Kopf und setze mich auf meinen vorherigen Platz neben Lio und Michael.
                »Wollen wir noch rausgehen?«, fragt Valentina.
                Jetzt wo ich mir Gedanken darüber machen, waren wir in diesen Tagen kein einziges Mal als Gruppe zusammen draussen. Auch heute wird das nicht der Fall sein, da Karol nicht da ist.
                Alle stimmen begeistert zu. Also machen wir uns einige Minuten später auf den Weg nach draussen. Da es wirklich recht spät ist, sind nicht so viele draussen und daher auch nicht so viele, die uns erkennen.
                Mexiko ist eine wunderschöne Stadt und ich liebe es einfach mal rauszugehen und alles genau zu betrachten. Ich weiss noch, als Karol und ich in Deutschland waren und sie mich rausgeschleift hat. Unwillkürlich muss ich lächeln, bis mich Agus anstupst. Fragend sehe ich ihn an.
                Er nickt in eine Richtung. Ich folge seinem Blick und erblicke Lucia, die angeregt mit jemandem telefoniert. Hoffentlich entdeckt sie mich nicht. Obwohl sie einige Meter von mir entfernt steht, sehe ich genau, wie sie entsetzt ihre Augen aufreisst und nach etwas Bestimmtem Ausschau hält. Sie scheint es gefunden zu haben, da sie mit zielstrebigen Schritten an uns vorbeiläuft. Ehe ich mich versehen kann, ist sie in ein Taxi gestiegen und weggefahren. Stirnrunzelnd drehe ich mich zu Agus.
                »Was war das denn?«, fragt er.
                Ich zucke mit den Schultern und verdränge das Geschehene. Schliesslich habe ich im Moment grössere Sorgen.
                Langsam neigt sich der Tag zum Ende zu. Alle sehen müde aus und wir beschliessen, wieder zurück zu gehen. Morgen ist unser letzter Auftritt und wir müssen alle ausgeruht sein.
                Als ich in meinem Bett liege, rolle ich mich jede zwei Minuten auf die andere Seite. Wo war Karol den ganzen Tag?
                »Rugge«, höre ich eine Stimme. Jemand rüttelt an meiner Schulter und scheint nicht damit aufhören zu wollen. »Du schläfst wie ein Stein. Steh mal auf.« Ich kann die Person als Agustin identifizieren und schlage meine Augen langsam auf.
                »Was?«, murmele ich. Mit halboffenen Augen sehe ich ihn an.
                »Ich habe gerade gesehen, wie Karol in ihr Zimmer gegangen ist und ihre Mutter ist auch in ein Zimmer gegangen.« Aufgeregt fuchtelt er mit seinen Händen herum
                Augenblicklich bin ich hellwach. »Wie spät ist es?«, frage ich und gähne.
                »Kurz nach Drei«, teilt er mir mit, nachdem er einen kurzen Blick auf sein Handy geworfen hat.
                Ich runzele meine Stirn. »Nachmittags?«
                Mit einer Hand schlägt er sich auf seine Stirn. »Nein«, sagt er bestimmt.
                »Was machst du um kurz nach Drei draussen?«, frage ich.
                Er zuckt mit den Schultern. »Ich konnte nicht schlafen.«
                »Konntest du immer noch nicht mit Caro reden? Ihr macht es aber auch wirklich unnötig kompliziert«, sage ich und sehe ihn eindringlich an.
                Als er nichts darauf erwidert, lege ich mich wieder hin und schliesse meine Augen.
                »Gehst du nicht zu ihr rüber?«, fragt Agus und mein damit wahrscheinlich Karol.
                »Nein, wenn sie erst jetzt zurückgekommen ist, dann braucht sie Schlaf.«
                Verstehend nickt er und legt sich mitsamt seinen Kleider auf das Bett. Nach einigen Minuten bin ich schon eingeschlafen.

Ruggarol - Verlorene ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt