50. Kapitel

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Ruggero 

Ich ziehe mir meine Jacke an, streife mir meine Schuhe rüber und trete aus meiner Wohnung heraus. Die erfrischende Luft strömt mir entgegen, als ich draussen stehe. Wie immer laufe ich den mir mittlerweile gewohnten Weg entlang und sehe mich um, wie als würde ich erwarten, dass sich etwas verändert. Belustigt über mich selbst schüttele ich den Kopf.
      Ich biege nach rechts und laufe einige Minuten geradeaus, bis ich im Krankenhaus ankomme. Wie jeden Tag sehe ich Menschen vor der Tür stehen. Unzählige Plakate halten sie in die Höhe und machen betrübte Gesichter. Einige von ihnen kenne ich mittlerweile recht gut, da ich sie praktisch jeden Tag sehe. Es freut mich aber auch jedes Mal, wenn ich neue Gesichter darunter erkenne.
      Nach einem kurzen Winken gehe ich an ihnen vorbei und biege nach links, wo der Lift schon wie gerufen auf mich wartet.
      Dreieinhalb Monate sind seit Karols Unfall vergangen. Seitdem komme ich so oft ich kann hierher und betrachte sie, wie sie von diesen unzähligen Schläuchen ernährt und am Leben gehalten wird.
      Manchmal komme ich alleine, manchmal auch in Begleitung von jemandem aus unserem Cast. Heute bin ich alleine hier. Karols Mutter ist praktisch immer hier und sitzt bei Karol. Ausser wenn ich komme, dann lässt sie mich meistens mit ihr alleine.
      Die Ärzte dürfen mir leider nichts Genaueres erzählen. Ich weiss nur, dass sie ein Schädel-Hirn-Trauma hat. Welche Bereiche jedoch davon betroffen sind, haben sie mir nicht gesagt. Das weiss nur Karols Mutter und auch sie will es mir nicht sagen, aus welchen Gründen auch immer.
      Im dritten Stock hole ich mir erstmal einen Café. Mit der Zeit gewöhnt man sich an diesen bitteren Geschmack. Aber ich habe grössere Sorgen im Moment.
      Die Dreharbeiten zu Soy Luna wurden verschoben. Die Betonung liegt auf Verschoben. Falls Karol aufwacht - die Ärzte sind sehr zuversichtlich - werden wir die Dreharbeiten zur dritten Staffel ansteuern. Soweit Karol das natürlich noch will.
      Die Tür zu Karols Zimmer geht auf und ihre Mutter tritt heraus. So wie sie lächelt, muss es auf jeden Fall eine gute Nachricht sein. Als sie jedoch mich erblickt, gefriert ihr Lächeln ein und sie kommt mit zögerlichen Schritten auf mich zu.
      Sie hat mir alles erzählt. Alles, was es mit David Ruiz auf sich hat, was meine Schuldgefühle nicht gerade schrumpfen lassen hat. Aber sie sagt, es wäre nicht meine Schuld. Trotzdem gebe ich mir die Schuld an diesem Unfall.
      »Was ist los?«, frage ich und schlürfe an meinem Café.
      Wieder ziehen sich ihre Mundwinkel nach oben. »Sie ist aufgewacht.«
      Mein Becher gleitet mir aus der Hand und der Café verteilt sich wunderschön auf dem Boden, was mich herzlichst wenig interessiert. »Was?«, rufe ich. »Darf ich zu ihr?«
      Sie nickt langsam. »Ja, aber warte.«
      Etwas in ihrer Stimme lässt mich stutzen.
      »Ihr Kurzzeitgedächtnis funktioniert fehlerfrei. Sie merkt sich alle neuen Sachen ohne Mühe. Auch sonst funktioniert alles, aber«, mitleidig sieht sie mich an, »vielleicht kann sie sich an die letzten Jahre nicht so gut erinnern.«
      Mein Lächeln erstirbt. »Sie erinnert sich nicht an mich?«
      »Das weiss man noch nicht. Ich wollte dich nur warnen«, gesteht sie, aber da bin ich schon an ihr vorbei gelaufen.
      Falls sie sich wirklich nicht an mich erinnert, ist das meine Chance ihr nie wieder Leid zuzufügen. Sie wird nicht wissen, wieso sie vor mehr als drei Monaten gegen ein fahrendes Auto gekracht ist. Sie wird nicht wissen wollen, wieso Lucia mich geküsst hat. Von ihrem Blickwinkel sah es so aus, als würden wir uns küssen, aber das war nicht so. Sie hat sich nur zu mir rüber gebeugt und ihre Lippen auf meine gelegt. Ich habe sie dann weggestossen.
      Mein Herz fühlt sich plötzlich so schwer an und meine Kehle scheint mir wie ausgetrocknet. Langsam drücke ich die Türklinke nach unten und betrete das Krankenzimmer. Karols Kopf schiesst direkt in meine Richtung. Sie sieht anders aus. Viel gesünder. Gar kein Vergleich mit den Tagen, in denen sie bewusstlos und bleich im Bett gelegen ist. Aber auch etwas hat sich verändert. In ihren Augen liegt gar kein Funken Vertrautheit. Sie begegnet mir mit einem typischen höflich fragenden Blick, wie man einem Fremden begegnet.
      Sie hat keine Ahnung, wer ich bin.
      Es kostet mich sämtliche Willenskraft näher zu ihr heran zu treten und nicht in grosse Panik zu zerfallen, gar in Tränen auszubrechen.
      »Hallo?«, sagt sie, lässt es aber wie eine Frage klingen. Fragend zieht sie ihre Augenbrauen zusammen.
      »Hallo«, erwidere ich leise und bleibe am Fussende des Bettes stehen. »Weisst du, wer ich bin?«
      Ihre Schuldbewusste Miene und das zerknirschte Lächeln, das sie aufgesetzt hat, zersplittert mein Herz in tausend Teile. »Sollte ich das?«
      Wieder spüre ich Tränen in mir aufkommen, unterdrücke sie aber. Es kostet mich eine Menge von Überwindung, ihr nicht alles zu erzählen. Unsere gemeinsame Zeit am Set, unser erster Kuss, unsere gemeinsame Nacht, alles. Alles, was wir zusammen durchgestanden haben, ist aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Ohne Ausnahme.
      Das ist nicht mehr die Karol, die ich kannte.
      Ich könnte ihr alles erzählen. Dann müsste ich ihr aber auch erzählen, dass ich derjenige bin, weshalb sie jetzt hier liegt. Wieso sollte ich ihr die Chance nehmen, jemanden kennenzulernen, den sie lieben lernt? Wieso sollte ich ihre Chance ausnutzen, nur weil ich sie liebe und ich will, dass es mir gut geht?
      »Ähm .. ja, aber nur flüchtig«, sage ich schliesslich.
      Sie nickt. »Also hast du mit mir bei Soy Luna mitgespielt?«
      Ich nicke. Anscheinend hat es ihr ihre Mutter schon erzählt. »Genau.«
      Zufrieden lächelt sie. Als ich ihr in die Augen blicke, warte ich auf die vertraute Liebe, mit der sie mich immer angesehen hat, jedoch bleibt das aus. Sie wendet ihren Blick verwirrt ab, ringt sich aber dennoch ein höfliches Lächeln ab.
      »Dann erzähle ich mal den anderen, dass du wach bist. Sie werden sich riesig freuen«, sage ich und drehe mich um.
      An der Türe wende ich mich wieder ihr zu.
      »Ja, ich freue mich schon alle neu kennenzulernen«, erwidert sie mit einem aufrichtigen Lächeln.
      Ich erwidere ihr Lächeln und lege meine Hand erneut auf die Türklinke, um die Tür aufzumachen, mache meinen Mund aber noch einmal auf. »Karol?«
      Fragend zieht sie ihre Augenbrauen in die Höhe.
      »Danke«, sage ich leise. »Für alles.«
      Äusserst verwirrt sieht sie mich lächelnd an und nickt.
      Dann drehe ich ihr den Rücken zu und verlasse das Zimmer.

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Mich würde ehrlich interessieren, was ihr bei diesem Kapitel empfunden habt🙈💕.

Ruggarol - Verlorene ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt