47. Kapitel

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Karol        

Heute ist der letzte freie Tag, den wir haben. Die Tage sind so schnell vergangen und ich habe versucht die Gedanken an David Ruiz und an meine Mutter zu verdrängen. Ruggero bin ich ebenfalls aus dem Weg gegangen. Ich habe keine Ahnung, ob er sich noch mit der Frau getroffen hat, oder nicht. Ich würde jetzt sagen, dass es mir eigentlich egal sein müsste, aber das ist es nicht, weil die Frau nur da ist, weil Herr Ruiz sie angestellt hat.
                Eigentlich habe ich gedacht, dass er mich bis zum letzten Konzert nicht mehr belästigen wird, aber da habe ich mich wohl geschnitten. Heute Morgen habe ich eine Mitteilung von ihm erhalten, ich solle um 16:00 Uhr zu einem Gebäude kommen, von dem er mir die Adresse geschickt hat. Dieses Mal war keine Drohung dabei. Aber ich werde wohl gehen müssen, sonst wird er bestimmt etwas finden, mit dem er mein Leben noch schlimmer machen kann.
                Im Moment haben wir 15:45 Uhr. Bis zur besagten Adresse brauche ich zu Fuss sieben Minuten, weshalb ich langsam die Treppen des Hotels runtersteige - also das sagt mir jedenfalls mein Handy.
                Unten fällt mein Blick auf die Rezeption. Mein Atem bleibt mir im Hals stecken. Wenn mich meine Augen nicht täuschen, dann steht tatsächlich meine Mutter dort. Ich spüre die Tränen in meinen Augen, während ich auf sie zurenne. Als ich fast bei ihr ankomme, dreht sie sich um, wie als hätte sie gespürt, dass ich hinter ihr stehe. Ich werfe mich in ihre Arme und lasse alles, was sich in den letzten Tagen bei mir angestaut hat, raus.
                Meine Tränen überfluten mich wie eine Welle. Ich hätte nie gedacht, dass sich so viele Tränen in mir gestaut hätten.
                Nach einigen Sekunden löse ich mich von ihr und blicke in ihr Gesicht. Sie sieht extrem müde aus, aber auch bei ihr entdecke ich die Freude darüber, mich zu sehen.
                Der Mann an der Rezeption beäugt uns verlegen und leicht schockiert gleichzeitig. Unbewusst werfe ich einen Blick auf die Uhr, die hinter dem Mann hängt. 15:49 Uhr. Langsam sollte ich mich auf den Weg machen.
                Ohne, dass ich es merke, zieht mich meine Mutter ein Stück weg und sieht sich besorgt um. »Karol, ich denke, ich werde dir erzählen müssen, was passiert ist.«
                »Ja, aber nicht jetzt«, sage ich und blicke wieder zu der Uhr. Ich habe noch zehn Minuten Zeit.
                Sie seufzt. »Du musst zu David, oder?«
                Entsetzt reisse ich meine Augen auf und nicke langsam. Woher weiss sie das? Gut, so weit hergeholt ist es jetzt auch nicht ...
                »Ich komme mit«, beschliesst sie.
                »Ähm .. okay?«, sage ich leicht Überfordert. Ich ziehe sie aus dem Hotel raus und beginne den vorgegebenen Weg zu laufen.
                »David ist ja der, der dich schon in Italien angesprochen hat, oder?«
                Ich nicke und frage mich, wieso sie ihm beim Vornamen nennt. Trotzdem unterbreche ich sie nicht. So lange habe ich auf diese Erklärung gewartet und jetzt können wir ihn vielleicht auch stoppen.
                »Ich wusste, dass du sein Angebot annimmst. Er hat alles genau geplant.« Sie merkt selber, dass sie zu sehr um den heissen Brei herumredet und atmet tief ein, bevor sie den nächsten Satz sagt. »Er ist dein Vater.«
                Ich sehe gar nicht von meinem Handy rauf, verkneife mir aber ein Lachen, weil das wirklich nicht der richtige Moment ist um Witze zu reissen. »Findest du nicht, dass es kein geeigneter Zeitpunkt ist, um Witze zu machen?« Als ich meinen Blick auf sie richte, erwarte ich ein belustigtes Gesicht, doch ich blicke in ihre ernste Miene. Abrupt halte ich an. »Du meinst das Ernst?«, stottere ich.
                Ich wende meinen Blick nicht von ihr ab, in der Angst irgendeine Geste zu übersehen. Langsam nickt sie.
                Schnell schüttele ich meinen Kopf und verdränge den Fakt, dass Herr Ruiz mein Vater ist, sondern stelle gleich die nächste Frage. Ich werde später noch genug Zeit haben, mir darüber Gedanken zu machen. »Was will er aber von uns?«, frage ich stattdessen und laufe ganz normal weiter, wie als würde ich jeden Tag erfahren, dass der Mann, der mich seit Monaten belästigt und mein Leben zur Hölle macht, mein Vater ist.
                Besorgt sieht mich meine Mutter an, redet aber schliesslich weiter. »Du hast wahrscheinlich keine Erinnerungen an ihn, da ich ihn als du vier Jahre als warst, verlassen habe.« Sie seufzt. »Er wollte immer, dass du Schauspielerin wirst. Schon damals war er Regisseur, jedoch wurden seine Filme nie wirklich erfolgreich, wie du vielleicht schon bemerkt hast. Ich dachte, er würde uns in Ruhe lassen, bis er wahrscheinlich von dir gehört hat, dass du eine erfolgreiche Karriere als Schauspielerin begonnen hast, aber anscheinend hat er genau auf das gewartet. Er ist gefährlich. Er ist zu allem fähig, wie du vielleicht ebenfalls auch schon erfahren hast.«
                Ich nicke.
                »Noch in Italien hat er mir gedroht, dass wenn du das Angebot nicht annimmst, er dir etwas antun würde. Und statt dich zu beschützen, habe ich genau das Gegenteil gemacht. So hatte er einen Grund, dich zu erpressen«, beendet sie ihre Erzählung.
                Stumm verarbeite ich die Worte von ihr. Er ist tatsächlich mein Vater. Unglaublich. Was er wohl sagen wird, wenn wir jetzt beide dort auftauchen? »Er hat mir gesagt, er hätte dich zu Hause eingesperrt?«
                Sie nickt. »Ja.« Es muss schlimm sein, von dem Menschen so gedemütigt zu werden, den man einst so geliebt hat. Ich würde meine Mutter gerne trösten, aber ein Krankenwagen, der vor dem Gebäude steht, vor dem wir uns ursprünglich treffen wollten, erregt meine Aufmerksamkeit.
                Auch meine Mutter runzelt die Stirn.
                Mit schnellen Schritten kommen wir in der Nähe des Krankenwagens an, entdecken aber niemanden.
                Ich nehme mein Handy hervor und öffne die Mitteilung, in der steht, in welchem Stockwerk sich sein Büro befindet. Zusammen mit meiner Mutter betrete ich das Gebäude. Es ist menschenleer. Zögernd laufen wir langsam die Treppen zum ersten Stock rauf, wo wir schon viele Stimmen wahrnehmen, die wild durcheinander reden. Wieder werfe ich meiner Mutter einen fragenden Blick zu, die nur mit den Schultern zuckt.
                Es befinden sich nur zwei Büros auf diesem Stock. Aus einer Tür stürmen immer wieder Sanitäter rein, die uns gar nicht wahrzunehmen scheinen. Mit schnellen Schritten bin ich am Türrahmen angekommen. Ein kurzer Blick auf die Tür genügt, um festzustellen, dass es das Büro von David Ruiz ist.
                Als ich jedoch auf das Szenario blicke, welches sich vor meinen Augen abspielt, stockt mir der Atem. Ach. Du. Scheisse.

Ruggarol - Verlorene ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt