31. Kapitel

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Karol

Am nächsten Morgen kann ich beruhigt ausschlafen, jedoch werde ich von ein paar Stimmen geweckt. Schlaftrunken setze ich mich auf und werfe einen Blick auf die Wanduhr, die 13:00 Uhr anzeigt. Stöhnend lege ich mich wieder hin und versuche einzuschlafen.
      Nach einigen Minuten werden die Stimmen lauter und ich reisse noch im Halbschlaf meine Augen auf. Wer ist das? Schnell stehe ich auf, woraufhin sich schwarze Punkte vor meinen Augen verteilen. Ich setze mich wieder hin und warte, bis das Schwindelgefühl verflogen ist und stehe schliesslich auf. Als ich inne halte und lausche, sind die Stimmen verstummt. Werde ich langsam verrückt? Habe ich mir das eingebildet? Auf Zehenspitzen schleiche ich die Treppe runter und bleibe so stehen, dass ich das Wohnzimmer in meinem Blickfeld habe. Ich sehe lediglich meine Mutter. Bis ich von meinem Augenwinkel eine Gestalt an der Tür wahrnehme.
      »Wir sind noch nicht miteinander fertig!«, ruft der Mann und knallt die Tür hinter sich zu. Nach diesen Worten sackt meine Mutter in sich zusammen und ich eile zu ihr hin.
      »Mama?«, frage ich mit zitternder Stimme. Augenblicklich dreht sie sich um und schnäuzt sich die Nase. »Wer war das?« Meine Angst ist mir deutlich anzumerken. Die Stimme des Mannes hallt in meinem Kopf wider. Irgendwie kommt mir die Stimme bekannt vor.
      »Was hast du alles gehört?«, reisst mich meine Mutter aus meinen Gedanken. Es ist das erste Mal seit langem, dass ich ihre Stimme höre.
      Langsam werde ich wütend. Die Wut brodelt nur so in meinem Bauch. »Was verheimlichst du mir? Was ist überhaupt in letzter Zeit mit dir los?« Wenn meine Mutter ausnahmsweise schon redet, dann will ich die Situation ausnutzen und herausfinden, was mit meiner Mutter los ist. »Ich mache mir Sorgen um dich!«, rufe ich etwas lauter als beabsichtigt. Im nächsten Moment tut mir es mir schon wieder leid, meine Mutter so angeschrien zu haben. So wie sie mich ansieht, zerbricht es mir das Herz. »Entschuldige, aber sag mir doch einfach, was du hast.«
      Sie schüttelt den Kopf und weicht meinem Blick aus. »Ich kann es dir nicht sagen«, murmelt sie.
      »Und wieso nicht? Mama, du sitzt seit Monaten nur auf dem Sofa und redest kein einziges Wort mit mir.« Ich spüre, wie mir die Tränen aufkommen. »Du bist meine Mutter. Ich möchte mit dir reden, mit dir lachen und Sachen mit dir unternehmen.« Jetzt kann ich meine Tränen nicht mehr zurück halten. Es kommt mir vor, als wäre es Jahre, als ich das letzte Mal zusammen mit ihr gelacht habe.
      Meine Mutter erwidert nichts darauf. Sie sieht mich nicht einmal an. Auch ich habe nichts mehr zu sagen. Im nächsten Moment drehe ich mich um und renne wieder in mein Zimmer rauf. Dort lasse ich mich auf mein Bett fallen und lasse meinen Tränen freien Lauf.
      Ich habe meine Mutter endgültig verloren. Den einzigen Menschen, dem ich blind vertraue. Den einzigen Menschen, der mich mein ganzes Leben lang begleitet und geliebt hat.
      Nach einigen qualvollen Stunden, habe ich mich dazu beschlossen nach draussen zu gehen. Frische Luft tut immer gut. Ich streife mir eine Jacke rüber und ziehe mir meine Schuhe an. Dann trete ich nach draussen und schliesse die Tür hinter mir. Kurz schliesse ich meine Augen und lasse die kühle Luft auf mich einwirken. Leider befreit sie mich dennoch nicht von allen Lasten. Ich setze mich in Bewegung und steuere einen etwas abgelegenen Wanderweg zu. Meine Haare wehen mir vor meinen Augen herum, weshalb ich sie hinter mein Ohr streiche.
      Plötzlich werde ich am Arm gepackt und auf die Seite gezogen. Erschrocken quieke ich auf und schlage dieser Person aus Reflex die Hand weg, was auch berechtigt war. Als ich sehe, wer vor mir steht, würde ich am liebsten schreiend wegrennen. Jedoch gehorchen mir meine Beine nicht.
      »Ich habe gestern vergeblich darauf gewartet, dass du dich meldest«, sagt Herr Ruiz. In meinem Gehirn macht es Klick und ich ziehe scharf die Luft ein. Diese Stimme.
      »Sie waren heute bei meiner Mutter!«, rufe ich und sehe ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Er erwidert meinen Blick gefasst. Wieder sehe ich in seine geweiteten Pupillen. Ich nehme ebenfalls wahr, dass er an einer Hauswand angelehnt ist. Ob er noch einigermassen gerade laufen kann?
      »Irgendwie musste ich ja herauskriegen, ob du mein Angebot annimmst«, zischt er.
      Unwillkürlich weiche ich einen Schritt zurück. Ich kaufe ihm diese Lüge nicht ab. »Sie lügen. Was haben sie mit meiner Mutter zu tun?«, fauche ich. Dieses Mal trete ich einen Schritt näher an ihn heran. Erst Sekunden später zuckt er zusammen.
      Er grinst mich dreckig an. »Das sage ich dir nicht.« Stolz über seinen Triumph, beginnt er wie ein kleines Kind auf und ab zu hüpfen. Ich will gar nicht wissen, zu was er in so einem Zustand fähig ist, weshalb ich diese Konversation möglichst schnell zu Ende bringen will. »Ich sage es dir nur unter einer Bedingung«, fährt er fort.
      Trotz meiner Angst versuche ich einen möglichst Selbstbewussten Eindruck zu machen. »Der wäre?«
      Einige Sekunden starrt er mich an. Ich weiche seinem Blick nicht aus. »Du spielst in meinem Film mit.«
      »Abgemacht«, erwidere ich, ohne eine Sekunde zu zögern. Sein anzügliches Grinsen jagt mir einen Schauer über den Rücken. Er macht gerade seinen Mund auf, um etwas zu sagen, doch eine andere Stimme lässt ihn nicht zu Wort kommen.
      »Karol!« Ich drehe mich in die Richtung, aus der die mir nur allzu bekannte Stimme gekommen ist und trete sicherheitshalber einen Schritt zurück. Ruggero stellt sich neben mich hin und sieht Herr Ruiz missachtend an. Er wirft mir einen fragenden Blick zu, woraufhin ich nicke. Jetzt scheint er selber zu merken, dass dieser Mann Drogenabhängig ist. Ich weiss zwar nicht, von welcher, aber ich weiss, dass er ein riesiges Problem damit hat.
      Ich werfe meinem neuen Chef noch einen letzten Blick zu und ziehe dann schliesslich Ruggero auf den Weg, den ich ursprünglich einschlagen wollte. »Wieso taucht dieser Typ immer in deiner Nähe auf?«, fragt Ruggero mich aufgebracht. Ich zucke lediglich mit den Schultern und versuche meine Nervosität in den Griff zu bekommen.
      »Hast du ihm wenigstens klar gemacht, dass du sein Angebot ablehnst?« Langsam richte ich meinen Kopf auf und sehe ihm direkt in die Augen.

Ruggarol - Verlorene ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt