18. Kapitel

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Ruggero

      »Wann kommt sie an?«, bohrt sie gleich mit ihren Fragen weiter, als wir in unserem Zimmer ankommen. Karol hatte gestern während dem Flug das Glück sich nicht eine ganze Reihe an Informationen von Diego anzuhören. Ich jedoch schon.
      »In der Nacht«, antworte ich und setze mich auf das Sofa, welches gegenüber vom Fernseher steht. Karol scheint sich weitere Fragen ausdenken zu wollen, um mir extra auf die Nerven zu gehen, aber dafür ist sie zu süss. Sie geht mir selten auf die Nerven, also soll sie es gar nicht erst versuchen. Gedankenverloren lässt sie sich neben mich auf das Sofa fallen und winkelt ihre Beine an. Irgendetwas scheint ihr gerade durch den Kopf zu gehen. Nur schwer reisse ich meine Augen von ihr los und zappe durch die Kanäle. Unwillkürlich erinnere ich mich an den Tag, an dem ich zufälligerweise Karol im Fernsehen gefunden habe. Der Moderator hat sie damals gefragt, ob wir zusammen seien. Sie hat die Frage verneint. Ob sie sie heute noch verneinen würde? Vielleicht sollte ich mal Agus fragen. Meine Gedanken stocken und ich halte mitten in der Bewegung inne. Agustin! Schnell stehe ich auf und renne zu meiner Jacke. Dort krame ich mein Handy heraus und verbinde mich mit dem freien Internet des Hotels.
      Karol beäugt mich kritisch von dem Sofa aus, doch ich ignoriere es. Meine Finger streichen über das Display, bis ich auf den Chat von uns tippe. Fünfzehn Nachrichten von ihm. Naja, kein Wunder, wenn ich seit Tagen mein Handy nicht angefasst habe. Eigentlich poste ich fast täglich Bilder, oder in die Instagram Story, aber in letzter Zeit gar nicht. Ich tippe eine schnelle Nachricht an Agus, in der ich mich entschuldige, da ich ihm versprochen habe, ihm zu schreiben, wenn ich ankomme. Meinen Eltern schreibe ich auch eine kurze Mitteilung.
      Als ich fertig bin, setze ich mich wieder neben Karol hin und seufze. »Ich habe nur schnell Agus und meinem Vater eine Nachricht geschrieben«, teile ich ihr mit.
      Kaum merklich nickt sie. Ich sehe den Anflug von etwas traurigem in ihrem Gesicht, das jedoch gleich wieder verfliegt. Sie wendet ihr Gesicht ab und sieht auf den Boden. Was hat sie?
      »Karol, was ist los?«, frage ich besorgt und knie mich gegenüber von ihr runter. Gezielt weicht sie meinem Blick aus, was mir einen Stich ins Herz verpasst.
      »Nichts«, antwortet sie und steht auf. »Ich komme gleich wieder.« Ich erwidere nichts darauf, sondern sehe ihr nur hinterher, wie sie die Tür des Badezimmers hinter sich schliesst. Verwirrt richte ich mich wieder auf und bleibe ziellos im Raum stehen.
      Ein paar Minuten später kommt sie aus dem Badezimmer heraus und setzt sich wieder topmunter neben mich.
      Als sie meinen fragenden Blick sieht, fixiert sie einen Punkt hinter mir und beisst sich auf die Unterlippe. »Ich hatte etwas im Auge.« Entsetzt starre ich sie an. Wenn es eine Rangordnung für die schlechtesten Lügen gäbe, dann würde sie mit Abstand gewinnen. Sehe ich so dumm aus? Ich rutsche ein Stück näher an sie heran und nehme ihre Hand. Ihre Augen verfolgen jede meiner Bewegungen.
      »Karol, lüg mich nicht an.« Ohne jegliche Emotionen im Gesicht sieht sie mich an. Ihre Augen sind leicht geweitet, was ihre inneren Gefühle hervorhebt.
      Gleich daraufhin schüttelt sie den Kopf und blickt auf ihre Beine. »Es ist nichts«, murmelt sie. Enttäuscht lehne ich mich zurück, lasse ihre Hand jedoch nicht los. Ich spüre, dass sie meine Hand kurz stärker drückt und sie dann an Spannung verliert. Wie, als wäre sie eingeschlafen. Mit einem kurzen Seitenblick stelle ich fest, dass sie mich anstarrt. Auch, als ich ihren Blick gefasst erwidere, wendet sie sich nicht ab. Nicht, dass es mich stören würde ... In diesem Moment sieht sie so verletzlich aus. Wie ein Stück Glas, das bei einer falschen Berührung zerbrechen könnte. An ihrer Hand ziehe ich sie näher zu mir, was sie Widerstandslos zulässt. Da ich praktisch auf dem Sofa liege, legt sie sich neben mich und legt ihren Kopf auf meiner Brust ab. Ihre eine Hand legt sie ebenfalls dort ab. Sie hinterlässt ein wohliges Gefühl in meinem Brustbereich. Hoffentlich hört sie mein Herz nicht so laut schlagen. Obwohl, ich höre es bis hier nach oben. Ich lege meinen Arm um ihre Hüfte und spüre daraufhin ihr leichtes Lächeln an meiner Brust. Unwillkürlich beginne auch ich zu lächeln.

      »Ruggero?« Eine Stimme dringt durch mein Unterbewusstsein, doch ich nehme sie nicht richtig wahr. »Ruggero?« Dieses Mal ist die Stimme lauter und dichter an meinem Ohr. Eine Hand rüttelt an meiner Schulter, bis ich schliesslich langsam meine Augen aufmache. Mein Blick fällt als erstes auf Karols Gesicht. Jetzt wird mir das Gewicht, das auf mir lastet, bewusst. Kaum habe ich einmal laut gegähnt, legt sie ihren Kopf schräg. Ich sehe, dass ihr etwas auf den Lippen liegt, sie es aber nichts aussprechen kann, oder nicht will.
      »Was ist deine Frage?«, frage ich sie sichtlich amüsiert, nachdem ich mich kurz geräuspert habe. Überrascht schiessen ihre Augenbrauen in die Höhe. Sie macht ein zerknirschtes Gesicht.
      »Wann kommt meine Mutter an?«
      Ich seufze und langsam beginnt mein Gehirn zu arbeiten. »Kurz vor Mitternacht.« Kurz sieht sie zur Uhr, die vier Uhr nachmittags anzeigt und nickt. In diesem Moment klopft es an der Tür und wir werfen einander einen verwirrten Blick zu. Schliesslich steht Karol auf und läuft zur Tür.
      Als sie sie aufmacht, tritt sie einen Schritt nach hinten. Von der Seite sehe ich ihren erschrockenen Gesichtsausdruck. Augenblicklich bin ich auf den Beinen und trete neben sie. Mein Blick wandert zu dem Mann, der am Türrahmen steht. Er hat kurz geschnittene Haare, die ziemlich dunkel sind. Nach meinem Geschmack sind sie zu lang, aber jedem das Seine. Nach meinen Einschätzungen müsste er Ende vierzig sein. Vielleicht ein bisschen jünger. Neben ihm steht ein Schiebewagen. Fragend sehe ich ihn an.
      Er scheint meinen Blick wie gewünscht aufzufassen und schenkt mir ein kleines Lächeln. »Sie haben das bestellt«, sagt er. Kurz sehe ich zu Karol, die jedoch nur den Kopf schüttelt.
      »Entschuldigen sie, aber wir haben nichts bestellt«, gebe ich ihm zu verstehen. Er runzelt die Stirn und sieht kurz auf die Nummer, welche an unserer Tür steht. »Tut mir leid. Ich habe mich in der Zimmernummer vertan.« Ich bemerke seinen unauffälligen Blick, den er in das Zimmer geworfen hat, sage aber nichts dazu.

Ruggarol - Verlorene ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt