42. Kapitel

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Ruggero

Unbewusst halte ich nach Karol Ausschau. Ich würde so gerne das Glitzern in ihren Augen sehen, wenn sie von Mexiko spricht. Da wir gerade auf dem Weg nach Mexiko sind, kann ich mir ihr Gesicht perfekt vor meinem inneren Auge vorstellen.
      Wir sind durch die verschiedensten Länder gefahren. Ich glaube, ich habe noch nie so viele Länder in so einer kurzen Zeit besichtigen dürfen. In manchen Ländern sind wir in Hotels eingecheckt, da manche Konzerte ein paar Tage auseinander lagen.
      Im Tourbus wurde es jedoch nie langweilig. Es gab immer irgendeinen, der gerade schlief und nichts von dem Lärm mitbekam. Oder jemanden, der kurz davor stand, zu kotzen, wegen der ganzen Kurven. Manchmal auch jemanden, der vor Platzangst fast in Ohnmacht fiel.
      Auf jeden Fall war es im Moment erschreckend still. Wir hatten eine turbulente Nacht hinter uns und alle wollen anscheinend ihren Schlaf nachholen.
      Der Bus ist auf der Strasse einfach stehen geblieben. Wie das passieren konnte, weiss man bis jetzt noch nicht. Der andere Bus, in dem die ganzen Arbeiter sind, ist uns mehrere Stunden voraus. Was mir aber wirklich egal ist. In Mexiko können wir uns erstmal entspannen. In den nächsten sechs Stunden sollten wir jedoch ankommen, aber ich bezweifle, dass wir ohne Stau durchkommen.
      In Mexiko haben wir fünf Tage Auszeit. Das heisst, dass das letzte Konzert erst in fünf Tagen ist. Immer wieder wundere ich mich, wie schnell ein Monat vergehen kann. Wenn ich es denke, klingt es noch viel verrückter. Einen Monat lebe ich praktisch schon in diesem Bus, in einem kleinen Bett und kann mich kaum bewegen, aber das macht mir nichts aus, solange ich meine Freunde um mich habe.
      Es sind nur noch Agus, Karol und ich wach, wie ich mit einem kurzen Blick in den Gang feststelle. Karol sitzt mit angewinkelten Beinen auf ihrem Bett und starrt ins Leere. Sie ist ein paar Reihen hinter mir. Trotzdem habe ich einen hervorrangen Blick auf sie. Ob sie an ihre Mutter denkt? Ich habe in Erinnerung, dass sie mir mal erzählt hat, dass ihre Mutter kurz nach dem Auftaktkonzert kommen würde.
      Agustin reisst mich aus meinen Gedanken, indem er im gegenüberliegenden Bett einfach auf die Seite kippt und einschläft. Ich muss mir einen Lacher unterdrücken. Schliesslich will ich die anderen nicht aufwecken.
      Ich beschliesse genau dasselbe zu tun und lege mich hin. Mein Atem wird gleichmässiger, doch bevor mir meine Augen zufallen, höre ich ein merkwürdiges Geräusch. Unbewusst halte ich meine Luft an und lausche. Da ist es wieder. Es klingt wie etwas, das durch etwas verstummt. Vielleicht durch eine Decke?
      Langsam setze ich mich auf und sehe von links nach rechts und wieder zurück. Jedoch stelle ich nichts Verdächtiges fest. Gerade, als ich mich wieder hinlegen will, vernehme ich eine so kleine Bewegung, dass ich sie beinahe übersehen hätte. Mein Blick richtet sich auf Karol, die ihren Rücken dem Gang zugekehrt hat. Ich sehe, wie ihre Schultern immer wieder zucken. Die Laute, die ich vorher vernommen habe, kamen von ihr. Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen, als mir bewusst wird, dass sie weint. Ich habe gemerkt, dass sie in den letzten Tagen etwas neben der Spur war. Ob sie jedes Mal weint, wenn alle schlafen? Bei dieser Vorstellung krümmt sich mein Herz gleich nochmal zusammen.
      Ohne zu Zögern, stehe ich auf und tapse langsam zu ihr rüber. Ich nehme mir nicht einmal die Zeit mir meine Hausschuhe anzuziehen, da der Boden echt schlimm aussieht. Als ich bei ihr ankomme, weiss ich nicht, was ich sagen soll. Soll ich sie anstupsen? Ihren Namen flüstern? Ich entscheide mich für die zweite Variante. »Karol«, flüstere ich.
      Abrupt verharrt sie in ihrer Bewegung und hält die Luft an. Ich weiss es, auch wenn ich sie nicht sehe. »Karol«, wiederhole ich.
      Ich knie mich hin und warte darauf, dass sie sich umdreht oder etwas sagt, doch nichts von dem passiert.
      Sanft lege ich eine Hand auf ihre Schulter und drehe sie zu mir. Sie wehrt sich nicht. Meine Befürchtungen bestätigen sich. Ihre Augen sind rot vom ganzen Weinen und auch ansonsten sieht sie nicht so gesund aus. Mein Herz zerbricht in tausend Teile. Trotz dem, was sie mir angetan hat, kann ich sie nicht weinen sehen.
      »Was ist los?«, frage ich. Immer noch darauf bedacht, die Anderen nicht zu wecken.
      Sie schüttelt ihren Kopf und will sich gerade wieder umdrehen, doch ich halte sie auf. »Karol«, ermahne ich sie sanft.
      Als sie mir immer noch nicht antwortet, halte ich es nicht mehr aus und setze mich auf das Bett. Ich nehme ihr die Decke weg, woraufhin sie mich verwirrt ansieht. Irgendwie schaffe ich es, sie auf meinen Schoss zu bringen. Ihre Beine schlingt sie um meine Hüfte.
      »Was ist los?«, frage ich noch einmal. Ich umarme sie und ziehe sie noch näher an mich heran. Ihr Herzschlag dringt bis zu mir durch.
      Zögernd schlingt sie ihre Arme um meinen Nacken. »Meine Mutter«, murmelt sie so leise, dass ich es fast nicht verstehe. Zudem es mir auch schwer fällt mich auf ihre Worte zu konzentrieren, wenn sie so nahe bei mir ist.
      Sie hat aufgehört zu weinen. Ich höre nur noch ihren unregelmässigen Atem.
      »Was ist mit deiner Mutter?«
      Kurz schnieft sie, bevor sie Luft holt. »Sie reagiert auf keine Anrufe von mir. Seit einem Monat habe ich kein einziges Lebenszeichen von ihr. Was ist, wenn Da-« Sie stockt und ich merke, wie sie ihre Luft anhält. Jedoch zwinge ich sie nicht dazu, noch mehr zu sagen.
      Ich selber habe oft mit meinen Eltern telefoniert und ich will mir gar nicht vorstellen, wie schlimm es ist, nicht zu wissen, was mit seiner Mutter los ist. Jetzt erklären sich auch die dunkel Augenringe unter ihren Augen und dass sie immer so müde ist.
      Würde ich nicht merken, dass Tränen auf meine Schultern tropfen, würde ich nicht wissen, dass sie weint.
      Mit einer Hand streiche ich ihr sanft über den Rücken und seufze.

Ruggarol - Verlorene ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt