40. Kapitel

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Ruggero

Nach etlichen Stunden - jedoch habe ich keine Ahnung wie Viele, da ich jegliches Zeitgefühl verloren habe - kommen wir an.
                »Deine Laune ist ja kaum auszuhalten.« Plötzlich taucht Agus neben mir auf. Er sieht ziemlich müde aus. Wahrscheinlich hat er bis jetzt noch geschlafen. »Ein bisschen mehr Motivation, bitte«, sagt er voller Enthusiasmus, was mich komischerweise auch ansteckt.
                Er scheint seinen Erfolg bemerkt zu haben, da er mir tröstend eine Hand auf die Schulter legt. »Das wird schon«, sagt er.
                Ich gebe einen kurzen Laut von mir, den ich selber nicht einordnen kann. Was er jedoch mit seinen Worten meint, weiss ich nicht. Ob er damit Karol meint, oder die Tour? Falls es meine erste Vermutung ist, dann kann auch er sich das abschminken, denn das mit Karol wird nicht einfach wieder.
                Die strahlende Sonne, die mir genau in die Augen scheint, reisst mich von meinen Gedanken weg und ich spaziere langsam, hinter allen andere, in die Halle ein.
                Im Moment befinden wir uns noch in Argentinien, wo wir aber als nächstes hingehen werden, weiss ich nicht.
                Karol, die vor mir läuft, stoppt plötzlich. Im letzten Moment kann ich mich noch bremsen, sonst wäre ich voll in sie reingelaufen. Wie schon immer macht mir das Schicksal einen Strich durch die Rechnung, indem Jorge von hinten gegen mich läuft und ich schlussendlich doch auch noch Karol anremple.
                Sie dreht sich um und begegnet mir mit einem völlig neutralen Blick, was mich kurz aus meiner Rolle wirft. Im nächsten Moment dreht sie sich wieder um und läuft den anderen nach. Entgeistert rühre ich mich nicht von der Stelle und starre ihr nach.
                »Jetzt kannst du weiterlaufen«, erinnert mich Jorge daran und ich gehorche ihm ohne zu zögern.
                Das wichtigste für unseren Auftakt der Tour, heute Abend, haben wir in das Gebäude reingenommen. Es ist recht gross und man hat mehrere Aufenthaltsräume. Vom Aussehen her, sieht es ganz normal aus. Weiss gestrichene Wände und ... ja. Das wäre alles.
                Den Soundcheck haben wir noch vor uns. In unseren Alltagsklamotten, haben wir uns auf der Bühne aufgestellt und hören dem Mann zu, der uns alles erklärt. Auch ich höre zu, bis ich bemerke, dass eine Person nicht wirklich zuhört. Karol. Bewundert sieht sie sich um. Ihre Augen tragen ein Leuchten in sich, das mir zugegebenermassen die Sprache verschlägt.
                Unauffällig folge ich ihrem Blick, wende mich aber gleich wieder ab. Ich fange einige tadelnde Blicke von meinen lieben Kollegen ein, die ich aber gekonnt ignoriere.
                Nach dem kurzen Soundcheck, ging es für uns in die Maske. Uns wurde die Kleidung für das erste Lied in die Hand gedrückt, woraufhin wir rausgeschickt wurden. Es herrscht hier eine Atmosphäre, die ich nicht beschreiben kann. Menschen huschen von einem Gang zum Anderen. Ein paar von uns, können kaum ihre Beine still halten. Wie zum Beispiel Karol, zu der ich einen kurzen Blick rübergeworfen habe. Andere filmen ununterbrochen mit dem Handy, obwohl wir nur eine kurze Hauptprobe machen. Die Räume sind nur von einer kleinen Lampe beleuchtet. Da es draussen schon dunkel ist, nützen sie nicht viel. Aber es sorgt für eine angenehme Stimmung. Ausser die Maskenräume. Dort hat man das Gefühl von den vielen Lichtern fast blind zu werden.
                Wirre Stimmen reden durcheinander und überall sehe ich ein fröhliches Gesicht nach dem Anderen. Eine Gänsehaut breitet sich auf meinem ganzen Körper aus. Zufrieden seufze ich und gehe in einen Umkleideraum, um meine Sachen anzuziehen.
                Die Hauptprobe ist ohne Probleme verlaufen. Auch wenn es mit Karol komisch war. Ich habe einfach ignoriert, dass das Karol war. Jedoch gelang mir das nicht wie erwünscht. In meinem Kopf machte sich ein Gedanke breit, den ich bis jetzt verdrängt habe. Später würde ich Karol wohl oder übel küssen müssen.
                Mittlerweile konnten wir unseren Spannungspegel ein bisschen senken und uns ausruhen. Als jedoch die letzte Stunden anbrach, war es vorbei mit dem Relaxen.
                Wir befinden uns alle in einem Raum, indem reihenweise Sofas stehen. Von diesem Raum aus gelangt man hinter die Bühne, wo auch schon ein paar Outfits, für die bereitstehen, die sich zwischen den verschiedenen Auftritten schnell umziehen müssen.
                Ich schlurfe an meiner Cola und lasse meinen Blick seelenruhig durch den Raum schweifen. Ich frage mich, ob ich nach aussen auch genauso wirke, wie ich mich fühle. Tiefenentspannt. Wie als könne Gaston meine Gedanken lesen, sieht er mich fast schon besorgt an. »Geht es dir gut?«
                »Bestens«, antworte ich und hänge ein kleines Grinsen hinterher.
                Er nickt beruhigt und will etwas sagen, doch im letzten Moment entscheidet er sich anders und wendet sich wieder an Jorge.
                »Wie schaffst du das, so entspannt auszusehen?«, fragt mich Mike und richtet zum hundertsten Mal, seit er in diesen Raum gekommen ist, seine Jacke.
                »Meditieren«, sage ich ernst.
                Seine Augen weiten sich und er entfernt sich von mir.
                »Das war Spass«, entgegne ich lachend. »Keine Ahnung. Liegt vielleicht an der Cola.« Ich zucke mit den Schultern.
                Mit hochgezogenen Augenbrauen zeigt Michael auf sein Getränk, das ebenfalls eine Cola ist.
                »Dann liegt es nicht an der Cola«, gebe ich von mir.
                Irgendwie versammeln sich plötzlich alle um mich herum. Aufgeregt beginnen alle ein Gespräch miteinander. Lionel, der neben mir sitzt, gestikuliert so energisch mit seinen Händen herum, dass ich Angst habe, dass er mir mit einer ins Gesicht schlägt.
                Nach einer weiteren halben Stunde, hört man schon wie die Leute langsam reinkommen. Dadurch, dass der Lärmpegel deutlich gestiegen ist, höre ich noch lautere Stimmen, die mich langsam aber sicher aus der Ruhe bringen. Das war es dann mit meiner ruhigen Phase. Wie bei allen anderen, beginnen meine Füsse sich selbstständig zu machen und auf dem Boden herumzutanzen.
                Kennt ihr diese Momente, in denen man das Gefühl hat nicht real zu sein? Dass das alles nur ein Traum ist? Genauso fühle ich mich. Langsam erwache ich aus meiner Starre und lege die Cola weg. »Vielleicht doch nicht so eine gute Idee«, murmele ich.
                Agus setzt sich neben mich und legt mir einen Arm um die Schulter. »Aufgeregt?«, fragt er.
                Ich nicke.
                Er grinst mich an.
                Ich grinse ihn an.
                Wir fangen beide an zu lachen.

Ruggarol - Verlorene ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt