26. Kapitel

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Ruggero

Drei Monate sind vergangen, seit ich Karol das letzte Mal gesehen habe. Genau gesagt sind es fünfundachtzig Tage. Also noch nicht ganz drei Monate. Immer noch frage ich mich, wieso ich ihre Worte nicht gerechtfertigt habe. Ich weiss, dass ich sie liebe. Und ich werde sie auch immer lieben. Aber wieso habe ich ihr nicht einfach gesagt, wieso ich unsere Beziehung nicht öffentlich machen wollte? Weil ich es anscheinend selber nicht genau weiss. Keine Ahnung, was mir durch den Kopf gegangen ist, als ich die Frage der Interviewerin mit »Nein« beantwortet habe. Anscheinend nicht viel. Vielleicht wollte ich es nicht sagen, weil wir so fast keine Privatsphäre hätten? Vielleicht weil ich Angst vor den verschiedenen Reaktionen hatte? Wenn wir schon bei Reaktionen anderer Mitmenschen sind ...
      »Damit ich das richtig verstehe«, beginnt Agus. Mit einem tiefen Seufzer lehne ich mich auf meinem Sofa nach hinten und ziehe abwartend meine Augenbrauen in die Höhe. »Also ihr wart zusammen, das wusste ich.« Skeptisch blickt er zu mir. »Wenn auch sehr spät.«
      Ich verdrehe meine Augen und schliesse sie anschliessend.
      »Karol wollte es öffentlich machen und du hast einfach eiskalt, als ihr bei einem Interview wart, die Frage mit Nein beantwortet?« Schnell öffne ich meine Augen und will mich gerade rechtfertigen, als er weiter redet. »Und dann hat sie dir sogar noch mehrere Chancen gegeben, es zu erklären und du hast einfach nichts gesagt?« Ein humorloses Lachen entweicht ihm. Entschuldigend sieht er mich an. »Du hast echt verkackt«, stellt er fest und schüttelt den Kopf.
      »Ich habe es verstanden. Du musst es mir nicht noch vierhundertachtundzwanzig Mal beschreiben«, fahre ich ihn leicht gereizt an, woraufhin er aus Reflex seine Hände in die Höhe hält.
      »Okay, okay«, sagt er beschwichtigend und im nächsten Moment fühle ich mich unglaublich schlecht, weil ich ihn gerade ohne wirklichen Grund dumm angefahren habe.
      »Tut mir Leid«, murmele ich schuldbewusst und nippe an meinem Wasser, welches ich seit einer gefüllten Ewigkeit in den Händen halte. »Lass uns über etwas anderes reden.« Er scheint mit meinem Vorschlag Einverstanden zu sein.
      »Bald ist ja die Tour«, sagt er schulterzuckend. Ich werfe ihm einen komischen Blick zu. Was von reden wir über etwas anderes, hat er nicht verstanden? Er verzieht sein Gesicht, als würde es ihm wehtun den nächsten Satz über die Lippen zu bringen. Aus Erfahrung weiss ich, dass es etwas mit Karol zu tun hat.
      »Spuck es aus«, fordere ich ihn.
      Er wirft mir noch einen unsicheren Blick zu, bevor er die Information verkündet. »Du musst Karol bei der Tour küssen.« Das Wasser, welches vor diesem Satz noch in meinem Mund war, landet auf dem Tisch.
      »Was?«, rufe ich und reisse meine Augen auf. Er nickt und legt mir eine Hand auf die Schulter. »Woher weisst du das?« Ich glaube ihm noch nicht wirklich.
      »Du würdest es auch wissen, wenn du zugehört hättest.« Ich erinnere mich an das Treffen, das wir vor knapp einer Woche hatten, um über die Tour zu reden. Karol ist nicht aufgetaucht, weil sie irgendetwas anderes zu erledigen hatte. Konzentriert war ich dort nicht wirklich, da hat er Recht.
      Fast schon flehend sehe ich ihn an. »Können wir bitte über etwas anderes reden?« Er nickt und wechselt mehr oder weniger geschickt das Thema
      Den Rest des Tages verbringen wir bei mir zu Hause und mit einem kleinen Abstecher in ein Café. Danach verabschiedet er sich und lässt mich alleine in meinem Selbstmitleid versinken. Kaum bin ich alleine, entfährt mir ein Seufzer und ich lasse mich auf das Sofa fallen. Aus Gewohnheit nehme ich die Fernbedienung und schalte damit den Fernseher an. Grundsätzlich schaue ich nicht so oft Fern. Aber ab und zu kann man sich das ja gönnen. Ausserdem könnte es mich auf andere Gedanken bringen. Jedoch nicht in diesem Leben, stelle ich nach einigen Sekunden fest. Kaum hat sich das Schwarz in ein scharfes Bild verwandelt, taucht Karol auf dem Bildschirm auf. Sie wird gerade gezeigt, wie sie in einem Kleid von mehreren Fotografen auf einmal fotografiert wird. Bei ihrem Anblick bleibt mir die Luft weg. Sie sieht atemberaubend aus. Ihr werden ein paar Fragen gestellt, aber ich habe keine Zeit mich darauf zu konzentrieren. Ihre Stimme ist wie Musik in meinen Ohren. Schon so lange habe ich sie nicht gehört. Und auch wenn ich sie nur durch ein paar Lautsprecher höre, hat sie die gewünschte Wirkung auf mich. Eine Gänsehaut macht sich auf meinem Körper breit. Die Aufnahme von ihr verschwindet und irgendjemand anders taucht auf.
      Nach ein paar Minuten schnappe ich mir mein Handy und gehe auf ihr Instagram Profil. All die Wochen habe ich es vermieden auch nur daran zu denken. Jedoch war das recht schwierig, wenn jedes zweite Bild auf dem ich markiert werde, ein Bild von ihr und mir ist. Auch jetzt ertappe ich mich bei dem Gedanken, was wäre, wenn ich bei diesem Interview nicht den Fehler meines Lebens gemacht hätte. Wären wir immer noch zusammen? Wären wir glücklich? Abrupt unterbreche ich meine Gedanken und schliesse die App wieder. Nach meinem Fehler ist eine Beziehung beinahe unvorstellbar. Ich habe es versaut und jetzt kann ich selber schauen, wie ich aus diesem Loch wieder rauskomme. Karol hat vorher recht glücklich gewirkt. Wenn schon ist sie meinetwegen nicht traurig. Das hat sie nicht verdient. Sie hat es mehr als jeder Mensch den ich kenne, glücklich zu sein. Und ich sollte der letzte Grund sein, wegen dem sie das nicht ist.
      Ich stehe auf und mache mich bereit, um schlafen zu gehen. Auch jetzt lassen mich die Gedanken an Karol nicht los. Irgendwie schaffe ich es doch sie zu verbannen und falle dennoch, in einen recht unruhigen Schlaf.

Ruggarol - Verlorene ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt