23. Kapitel

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Karol

      »Ruggero«, rufe ich, doch er schläft wie ein Stein. Ein einsamer nicht bewegbarer Stein. Seit geschlagenen Minuten versuche ich ihn aufzuwecken, doch jeder Versuch war bis jetzt erfolglos. Dabei könnten seine Eltern in den nächsten Minuten vor unserer Tür stehen. Diego hat mich vorher angerufen, nachdem er es ein paar Mal auf Ruggeros Handy versucht hat, und mir gesagt, dass seine Eltern kommen, die Ruggero ebenfalls nicht erreichen konnten und deshalb Diego angerufen haben.
      Ich rüttele so fest an seiner Schulter, dass sich sein ganzer Körper bewegt. »Ruggero!« Das »o« ziehe ich extra lang in die Länge und siehe da! Seine Augenlider beginnen zu flattern.
      »Hallelujah!« Aufgeregt werfe ich meine Hände in die Luft und sehe zu, wie er seine Augen verschlafen mit einer Hand reibt.
      »Könntest du bitte leiser sein?«, bittet er mich und dreht sich einfach auf die andere Seite. Empört stütze ich meine Hände in die Hüfte und atme hörbar aus.
      Einige Sekunden stehe ich grübelnd da, bis mir die Lösung einfällt. Mit einigen kurzen Handgriffen habe ich seine Decke und das Kopfkissen gepackt. Mit einem kurzen Ruck, liegen beide auf dem Boden und Ruggero stöhnt genervt auf. Ohne grosse Worte, zieht er mich an meinem Unterarm in sein Bett, aus dem ich beinahe rausfalle und kuschelt sich an mich. Sein Kopf liegt an meiner Halsbeuge, weshalb ich seinen Atem klar spüre. Ich brauche einen Moment, um mich zu fassen und beginne dann leise zu kichern. Seine Hand wandert von meinem Bauch langsam zu meiner Hüfte, wo er mich noch näher zu sich ran zieht.
      Mit meiner einen Hand fahre ich gedankenverloren durch seine Haare, woraufhin ich leise seufze. »Ruggerito«, sage ich sanft. Er murmelt etwas Unverständliches. »Deine Eltern kommen bald.« Es scheint ziemlich lange zu dauern, bis er versteht, was ich gesagt habe. Da er erst nach einigen Sekunden seinen Kopf aufrichtet. »Was?«, fragt er. Seine Augen weiten sich überrascht, woraufhin ich nicke.
      Ein Lächeln erscheint auf seinen Lippen, welches ihn so süss erscheinen lässt, dass ich Angst habe gleich dahin zu schmelzen.
      »Weisst du, dass du einen sehr tiefen Schlaf hast?« Belustigt ziehe ich meine Augenbrauen nach oben.
      Er schüttelt lediglich seinen Kopf und rappelt sich auf. »Wieso weisst du, dass sie kommen?« Mit einer Hand fährt er sich durch die Haare.
      »Diego hat mich angerufen«, sage ich schulterzuckend.
      Verwirrt runzelt er die Stirn. »Wieso weiss Diego das?«
      »Weil deine Eltern ihn angerufen haben.«
      »Wieso haben meine Eltern ihn angerufen?«
      »Weil du nicht an dein Handy gegangen bist.« Er erwidert nichts mehr darauf, sondern steht auf und schlendert zu einer Tür, hinter der sich das Badezimmer verbirgt.
      Einige Minuten später klopft es an der Tür. Aufgeregt läuft Ruggero dort hin und macht sie auf. Doch an seiner Körperhaltung erkenne ich, dass es nicht die Besucher sind, die er sich erwünscht hat. Ich trete neben ihn und blicke in das Gesicht eines Mannes, der auf Anhieb etwas Unheimliches ausstrahlt. Irgendwie kommt er mir bekannt vor ... aber ich komme nicht darauf, wo ich ihn schon mal gesehen habe.
      »Karol Sevilla?«, fragt er mit einer Stimme, die mir einen Schauer über den Rücken jagt. Wo ist Diego, wenn man ihn mal braucht?
      Langsam nicke ich.
      Er streckt mir eine Karte vor die Brust. Mit einem kurzen Blick darauf, stelle ich fest, dass es eine Visitenkarte ist. Mit zitternden Fingern ergreife ich sie und lasse sie in meine Hand gleiten. Dann richte ich meinen Blick wieder auf ihn und warte darauf, dass er irgendetwas sagt.
      »Ich bin Regisseur«, beginnt er. »ich würde mich sehr freuen, dich bei meinem nächsten Projekt dabeizuhaben. Auf der Karte steht meine Nummer, wenn du dich entschieden hast, kannst du mich anru-« Er wird unterbrochen.
      »Verschwinden sie!«, höre ich die aufgebrachte Stimme meiner Mutter. In diesem Moment fliegt ebenfalls die Tür von Diegos Zimmer auf und er tritt heraus. Der Mann verabschiedet sich mit einem flüchtigen Blick und rennt den Gang entlang bis zum Ausgang. Wie versteinert stehe ich da. Mein Blick fällt auf meine Mutter, die den Tränen nahe steht. Verwirrt laufe ich auf sie zu. Die Visitenkarte habe ich sicher in meiner Hosentasche verstaut.
      »Mama, was ist los?«, frage ich und lasse Ruggeros Hand los, die ich unbewusst genommen hatte. Sie atmet einmal tief durch und sieht mich so an, als wäre nichts gewesen. Als wär sie nicht gerade fast in Tränen ausgebrochen.
      »Nichts«, sagt sie, doch ihre Stimme klingt seltsam belegt. Ich rede auf sie ein, doch sie scheint mir nicht richtig zuzuhören. Plötzlich wendet sie sich an Diego.
      »Wo warst du? Du musst bei so Sachen schneller reagieren! Es hätte sonst etwas passieren können«, fährt sie ihn an. Ich erkenne meine Mutter nicht wieder. Diego will gerade zu einer Entschuldigung Luft holen, doch ich schneide ihm das Wort ab.
      »Er trägt keine Schuld«, stelle ich klar. »Mama, der Mann wollte nichts Böses.« Sie sieht mich mit einem Blick an, indem sich pure Angst widerspiegelt.
      Nachdem sich die Situation, die leicht überdramatisiert wurde, beruhigt hatte, haben wir uns alle auf das Sofa in dem Zimmer von Ruggero und mir hingesetzt. Zum zweiten Mal an diesem Tag klopft es an der Tür. Ruggero springt auf und öffnet die Tür. Dieses Mal sehe ich ein aufrichtiges Lächeln auf meinen Lippen, welches mein Herz erwärmt. Noch am Türrahmen überfällt er seine Mutter mit einer Umarmung, die die Umarmung freudig erwidert. Danach kommt sein Bruder Leonardo dran. Während die zwei Brüder sich umarmen, beginnt seine Mutter meine Mutter zu begrüssen und anschliessend Diego. Während ich Ruggero noch zusehe, wendet er sich seinem Vater zu. In diesem Moment, in dem er ihn in die Arme schliesst, merke ich, dass mir etwas fehlt. Ein Vater.

Ruggarol - Verlorene ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt