27. Kapitel

540 29 2
                                    

Karol

Sechsundachtzig Tage sind vergangen, seit ich Ruggero das letzte Mal gesehen habe. Bis heute ist kein Tag vergangen, ohne dass ich nicht an ihn gedacht habe. Wie auch, wenn er vierundzwanzig Stunden am Tag meine Gedanken übernimmt?
      Meine Mutter benimmt sich nach wie vor komisch. Des Öfteren habe ich versucht mit ihr zu reden, aber mir kommt es so vor, als wäre sie in sich eingekehrt. Als wolle sie keinen Kontakt mehr zur Aussenwelt.
      Unbewusst greife ich nach der Visitenkarte des Mannes, welcher sie mir in Deutschland gegeben hat. Was das wohl für ein Projekt ist, für das er mich angefragt hat? Vor einigen Tagen habe ich ihn angerufen. Nach einem kurzen Gespräch haben wir ein Treffen ausgemacht. Da das Treffen heute stattfindet, rappele ich mich langsam auf und beginne mich entsprechend zu kleiden. Ob ich gecastet werde? Nein, dann hätte er mir das gesagt. Ebenfalls habe ich mich im Internet schlau über ihn gemacht. Er ist ein Produzent, der bis jetzt nicht so viel erreicht hat. Man kennt ihn unter dem Namen Daniel Ruiz. Ich selber habe noch nie etwas von ihm gehört, aber vielleicht werde ich ja positiv überrascht.
      Während ich die Türklinke runter drücke, werfe ich noch einen kurzen Blick nach hinten. Meine Mutter schläft auf dem Sofa und scheint nicht zu bemerken, dass ich rausgehe. Besser so. Sie würde sich sowieso nur Sorgen um mich machen. Meine Mutter war ja schon immer sehr sorgenvoll, aber seit wir von Italien zurückgekommen sind, treibt sie mich an den Rand des Wahnsinns. Wenn es nach ihr ginge, dürfte ich nicht einmal raus gehen.
      Leise schliesse ich die Tür hinter mir und atme die kühle Luft ein. Auf irgendeine Art und Weise beruhigt sie mich. Ich vergrabe meine Hände in den Jackentaschen und ziehe Kapuze und Kragen hoch. So gerne ich Zeit mit meinen Fans verbringe, so habe ich es im Moment wirklich eilig.
      Nach einigen Minuten Fussmarsch erreiche ich das Gebäude, in dem unser Treffen stattfindet. Aufgeregt trete ich von einem Fuss auf den Anderen. Ich stosse die Tür auf und betrete einen grossen Eingangssaal. Erstaunt bleibe ich erstmal stehen. Für das, dass er nicht so berühmt, geschweige den Erfolg hat, ist das recht nobel. Erst auf den zweiten Blick erkenne ich, dass in diesem Gebäude mehrere Unternehmen untergebracht sind. Zögernd laufe ich auf den Lift zu und warte, bis er bei mir ankommt. Diese Situation erinnert mich daran, wie Ruggero und ich immer auf den Lift gewartet haben. Ein kaum merkliches Lächeln stielt sich auf meine Lippen, welches ich sofort verbanne. Ich setze ein neutrales Gesicht auf und betrete den Lift. Mit einem kurzen Blick auf die kleinen Infotafeln, die über den Knöpfen hängen, weiss ich in welches Stockwerk ich muss.
      Der Lift kommt ruckend zum Stillstand und ich stehe in einem leeren Gang. Hilfesuchend blicke ich mich um, doch es kommt kein einziger Mensch vorbei. Also setze ich mich selber in Bewegung und klappere jede einzelne Tür ab, bis ich den gewünschten Namen finde. Daniel Ruiz. Bevor ich klopfe, atme ich ein paar Mal tief ein und aus. In Gedanken zähle ich die Sekunden ab, bis sich die Tür öffnet. Er sieht mich an und streckt mir seine Hand aus. Lächelnd ergreife ich sie und trete danach hinter ihm in sein zierliches Büro ein. Es ist klein gehalten, aber man sieht, dass er viel Zeit hier drinnen verbringt. An jeder Wand stehen Regale, die mit knallbunten Ordnern gefüllt sind. In einer Ecke steht eine Topfpflanze, die noch recht gesund aussieht.
      Als ich seinen Blick auf mir bemerke, sehe ich schnell zu ihm. Er deutet auf einen Stuhl. »Setz dich doch, bitte.« Ich gehorche ihm und lasse mich in den Sessel fallen. Meine Handtasche stelle ich neben mir ab und schlage meine Beine übereinander. Er nimmt gegenüber von mir Platz. Bei genauerem Hinsehen, sehe ich, dass seine Pupillen unnatürlich geweitet sind. Unauffällig versuche ich mir seine Augen genauer anzusehen, doch er wendet seinen schnell ab. Hat er irgendetwas genommen? Nein, bestimmt nicht. Wahrscheinlich habe ich mich nur versehen.
      Während dem Smalltalk habe ich genügend Zeit mir seine Pupillen anzusehen und komme zum Entschluss, dass er wirklich irgendwelche Drogen genommen hat. Grundsätzlich geht es mich nichts an, aber es macht sich doch ein unbehagliches Gefühl in meinem Bauch breit.
      »Ich freue mich, dass es mit unserem Treffen geklappt hat«, sagt er. Ich nicke höflich und sehe ihn abwartend an. Was jetzt wohl kommt?
      Er erklärt mir, dass er an einer Filmidee arbeitet. Auch, dass er schon sehr lange daran arbeitet und er mich gerne als Hauptdarstellerin in diesem Film möchte. Im ersten Moment bin ich verblüfft über dieses Angebot. Runzele dann aber skeptisch meine Stirn.
      »Aber vielleicht bin ich gar nicht geeignet für diese Rolle?«, gebe ich zu bedenken. Diese ganze Sache stinkt bis zum Himmel. Und ich weiss jetzt schon, dass ich das ablehnen werde.
      Grinsend lehnt er sich nach vorne. Unwillkürlich weiche ich zurück. »Die Rolle passt perfekt zu dir, glaub mir.« Mit einem Mal verliert er an der ganzen Sympathie, die er hatte. Ich möchte einfach nur möglichst schnell aus diesem Büro heraus. Am besten aus dem ganzen Gebäude.
      Panisch sehe ich auf die Uhr, die hinter ihm hängt. Er bemerkt meinen Blick, macht ein verächtliches Geräusch und lehnt sich zurück. Entspannt lasse ich meine Schultern hängen und beginne auf meiner Unterlippe herumzukauen.
      »Also Karol, was sagst du?«, fragt er mich. Dabei reckt er das Kinn in die Höhe. Sein Blick scheint mich zu durchbohren.
      Ich verfluche mich selber dafür, dass ich ohne meine Mutter hierhergekommen bin. Gut, meine Mutter hätte mich nicht einmal aus dem Haus gelassen. Ich verdränge die Gedanken und versuche mich möglichst selbstbewusst zu zeigen. »Im Moment bin ich ja die Hauptdarstellerin bei einer anderen Serie«, sage ich.
      Nachdem ich den Satz ausgesprochen habe, springt er aufgeregt von seinem Stuhl und beginnt wie ein wildes Tier herumzulaufen. Dabei flüstert er irgendetwas vor sich hin, was ich nicht verstehe. Unbewusst bin ich tiefer in den Sessel gerutscht. Schnell setze ich mich wieder gerade hin und versuche meinen immer schneller werdenden Puls zu beruhigen. Ich schicke ein stilles Gebet gen Himmel, dass ich heil aus diesem Büro herauskomme. Kaum merklich stehe ich auf, tapse auf Zehenspitzen zu der Tür und lege meine Hand auf die Türklinke. Herr Ruiz scheint es nicht zu bemerken, da er mir den Rücken zugekehrt hat. So leise, wie nur möglich, mache ich die Tür auf und trete auf den dunklen Flur. Meine Beine tragen mich von alleine in den Lift und schliesslich aus dem Gebäude raus, wo ich mich auf schnellstem Weg zu mir nach Hause mache.

Ruggarol - Verlorene ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt