30. Kapitel

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Ruggero

      »Was war das denn?«, frage ich Karol, die sich panisch nach hinten dreht. Dann dreht sie sich zu mir und starrt mich zuerst einige Sekunden an, bis ihr klar wird, was ich gefragt habe.
      »Nichts.« Ich gebe ihr mit einem Blick zu verstehen, dass ich ihr nicht glaube und sie sackt in sich ein. »Okay, okay.« Sie dreht sich noch einmal nach hinten, wie als wolle sie überprüfen, ob ihr jemand zuhört. »Er hat mir ja so ein Angebot gemacht und dann habe ich mich mit ihm getroffen. Als ich in seinem Büro war, habe ich gemerkt, dass er Drogen genommen hat.« Mein skeptischer Blick lässt sie empört aufschnaufen. »Seine Pupillen waren so geweitet, das glaubst du gar nicht! Dann hat er auch noch so wirres Zeug geredet. Schliesslich bin ich einfach rausgerannt«, beendet sie ihren Redeschwall.
      »Und du glaubst wirklich, dass er bekifft war?«
      »Ich glaube es nicht nur, ich weiss es«, entgegnet sie. Ich werfe ihr noch einen unsicheren Blick zu, bevor ich das Thema wechsele. »Holt dich deine Mutter nicht ab?«
      Ein trauriges Lächeln schleicht sich auf ihre Lippen. »Nein.«
      Ich runzele meine Stirn. »Wieso nicht?«
      »Keine Ahnung. Sie ist seit wir in Deutschland waren echt komisch drauf. Manchmal macht sie mir sogar richtig Angst. Es kommt mir so vor, als wäre sie wie in sich selber eingekehrt.«
      Schon oft habe ich beobachtet, wie Karol und ihre Mutter miteinander umgehen. Sie haben eine wirklich innige Beziehung zueinander, weshalb mir Karol echt Leid tut. Und wie sie jetzt so betrübt auf den Boden starrt, bricht mir beinahe das Herz. Ich nehme ihre Hand und sehe fasziniert dabei zu, wie sie sich ihre Mundwinkel langsam nach oben ziehen.
      »Du hast heute nichts mehr vor?«
      Sie runzelt die Stirn. »Nein, wieso?« Ohne Vorwarnung ziehe ich sie an ihrem Handgelenk hinter mir her.

      »Konntest du mich nicht in ein Restaurant schleifen, in dem es nicht so viel Auswahl an Essen gibt?«
      Ich erwidere nichts darauf, sondern hole stumm mein Handy aus meiner Hosentasche und öffne Instagram. Dort beginne ich mit verkniffenem Lachen ein Video von Karol zu machen, wie sie fast schon entsetzt die Menükarte studiert. »Was soll ich nur nehmen?«, fragt sie aufgebracht.
      Als ich wieder nichts darauf antworte, richtet sie ihren Kopf auf und sieht mich erstmal fragend an. Sie braucht gefüllte zwei Sekunden um zu begreifen, was ich mache. Als das Video fertig ist, beginnt sie zu lachen. »Und jetzt sag mir, was ich nehmen soll«, befiehlt sie mir.
      Ich empfehle ihr einige Speisen und dann kommt auch schon der Kellner. Wir geben beide unsere Bestellung auf und ich sehe aus dem Fenster. Kurz meine ich den Mann, der uns schon in Deutschland und in den anderen Ländern verfolgt hat, zu sehen. Wenn er sogar dazu fähig ist uns über mehrere Länder zu verfolgen, dann ist eine Strasse dagegen nichts.
      Karol bemerkt meinen Blick. »Ist was?«, fragt sie besorgt. Ich schüttele den Kopf. Wenn ich ihr das sage, dann wäre sie zu beunruhigt. Aus ihrem Gesichtsausdruck lese ich heraus, dass sie mir nicht glaubt, belasse es aber dabei.
      Unser Essen wird uns gebracht und wir stürzen uns beide praktisch drauf.
      »Keine schlechte Wahl«, sagt Karol und zeigt dabei auf ihren Teller. Ich nicke selbstüberzeugt, woraufhin sie die Augen verdreht. »Weisst du eigentlich, dass Matteo praktisch eine Kopie von dir ist?«, fragt sie halb ernst und halb lachend.
      Ich beginne zu Lachen. »Und weisst du, dass Luna auch eine Kopie von dir ist?« Gespielt verletzt legt sie ihre Hand auf die linke Brust, als würde ihr Herz zerbrechen. Hinterher beginnt sie zu lachen. Ihr Lachen ist wie Musik in meinen Ohren.
      Nach unserem kleinen Abstecher in mein Lieblingsrestaurant, sind wir in ein Taxi gestiegen, das uns zu Karol gefahren hat. Ausserdem nimmt es mich wirklich Wunder, ob ihre Mutter wirklich so ist, wie sie es beschrieben hat. Sie kramt in ihrer Tasche herum, bis sie den Schlüssel findet und die Tür aufschliesst. Bevor wir jedoch eintreten, dreht sie sich zu mir um. »Wer hat dich eingeladen?«, fragt sie grinsend.
      »Ich? Und jetzt lass mich rein, es ist kalt.«
      Sie lässt mich schliesslich doch rein. Drinnen ziehe ich mir Schuhe und Jacke aus. Ich war tatsächlich noch nie bei ihr zu Hause, weshalb ich mich interessiert umsehe. Alles ist ziemlich modern eingerichtet. Und das erste Mal, seit ich Karol kenne, stelle ich mir bewusst die Frage, was eigentlich mit ihrem Vater ist. Natürlich habe ich mich schon ein paar Mal gefragt, was passiert sein könnte, aber bis jetzt habe ich mich getraut sie zu fragen. Dass der passende Moment dazu jetzt ist, bezweifle ich. Ich verscheuche die Gedanken und laufe hinter Karol her, die zielstrebig irgendwo hin läuft. Plötzlich bleibt sie stehen, sodass ich fast in sie rein laufe. Gerade als ich protestieren will, legt sie ihre Hand auf meinen Mund und bedeutet mir so, keinen Mucks von mir zu geben. Ich folge ihrem Blick und entdecke ihre Mutter auf dem Sofa. Vollkommen gedankenversunken, sitzt sie dort und tupft sich Tränen von den Wangen. Nach einigen Sekunden, dreht sich Karol abrupt um und rennt die Treppe rauf. Ohne auch nur eine Sekunden darüber nachzudenken, folge ich ihr. Schliesslich biegt sie in irgendein Zimmer ein. Ich schliesse die Tür hinter mir und gehe mit langsamen Schritten auf Karol zu. Bevor ich irgendetwas sagen kann, beginnt sie zu reden.
      »Siehst du was ich meine? Sie hat nicht einmal gemerkt, dass wir hereingekommen sind. Sie sitzt einfach dort und weint. Ich habe keine Ahnung, was mit ihr los ist« Sie schnauft. Plötzlich weiten sich ihre Augen und sie sieht mich erschrocken an. »Meinst du sie hat Depressionen?«
      Ich schüttele bestimmt meinen Kopf. »Nein, dann könnte sie nicht weinen.« Es ist ein ziemlich schwaches Argument, aber immerhin etwas, dass sie beruhigt.
      »Versuch doch mit ihr zu reden.«
      Niedergeschlagen schüttelt sie den Kopf und seufzt. »Das habe ich schon versucht. Im Moment kommt es mir so vor, als wäre sie das Kind und ich die Mutter.« Ich setze mich neben sie, woraufhin ein Kuscheltier vom Bett fällt. Jetzt erst fällt mir die ganze Horde von Plüschtieren auf. Erfolglos unterdrücke ich ein Grinsen, da es echt unpassend ist. Doch Karol hat es schon gesehen und bringt auch ein leichtes Lächeln zustande.

Ruggarol - Verlorene ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt