39. Kapitel

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Karol

Die Tage ziehen nur so an mir vorbei. Meistens verbringe ich sie in meinem Bett und mit vielen Tränen. Heute ist aber alles anders. Hellwach schalte ich meinen Wecker aus und hechte aus dem Bett. Heute beginnt die Tour und ich mehr als nur ein wenig aufgeregt. Endlich können wir das zeigen, was wir stundenlang trainiert haben.
      Meine Vorfreude hält sich jedoch in Grenzen. Seit sechs Tagen habe ich Ruggero nicht mehr gesehen und heute wird es wieder so weit sein. Ich spüre meinen zu schnellen Herzschlag und versuche ihn wieder unter Kontrolle zu bringen.
      Auch wenn er mich vielleicht schon längst vergessen hat. Ich kann das nicht einfach alles so schnell wegwerfen. Mit ihm habe ich so viele schöne Momente erlebt, die ich nicht einfach vergessen kann. Diese Momente werden mich mein ganzes Leben lang begleiten. Ob ich will, oder nicht.
      Meine Mutter hat sich dazu bereit erklärt mich zum Tourbus zu fahren. In letzter Zeit ist die Atmosphäre zwischen uns nicht mehr so angespannt. Trotzdem ist es noch lange nicht so wie früher.
      Ich hechte mit meinem Koffer die Treppe runter und treffe dort auf meine Mutter. Mit einem »Guten Morgen« begrüsse ich sie und laufe an ihr vorbei.
      Meinen Koffer verstaue ich hinten im Kofferraum und nehme dann schliesslich auf dem Beifahrersitz Platz. Meine Mutter kommt ebenfalls rein und beginnt aus dem Parkplatz zu fahren.
      Da es recht früh ist, ist es auch dunkel. Die Müdigkeit holt mich ein und ich schlafe fast wieder ein. In den letzten Tagen habe ich kaum ein Auge zugemacht. Aber ich denke, das habe ich verdient. Ruggero hat es nicht verdient so verletzt zu werden. Er sollte mit jemandem zusammen sein, der ihn schätzt und sein Vertrauen nicht missbraucht.
      Während ich mich in Erinnerungen schwelge, löst sich eine winzige Träne aus meinem Augenwinkel. Schnell wische ich sie weg und sehe aus dem Fenster. Trotz allem, bringe ich ein leichtes Lächeln auf meine Lippen.
      Nach einigen Minuten kommen wir an und ich steige aus. Auf dem Tourbus sticht mir mein eigenes Ich entgegen. Ich lasse meinen Blick über den ganzen Bus schweifen und stelle fest, dass von allen ein Foto drauf ist.
      Anschliessend hole ich meinen Koffer aus dem Kofferraum und verabschiede mich von meiner Mutter. Sie wird in den nächsten Tagen nachkommen, hat sie mir gesagt. Ob sie das jedoch einhält, weiss ich nicht.
      Es sind noch nicht viele da. Um genau zu sein, sehe ich nur Carolina, die neben ein paar Mitarbeitern sitzt. Mit zielstrebigen Schritten gehe ich auf sie zu und umarme sie zur Begrüssung. Sie beginnt mit den Augenbrauen zu wackeln. »Wo hast du Ruggero gelassen?«
      Ich bringe ein vages Lächeln zustande und blicke zu Boden. Sie interpretiert meine Geste richtig und steht abrupt auf. »Was?«, fragt sie fassungslos. »Wann? Und vor allem wieso?«
      Nervös beginne ich auf meiner Unterlippe herumzukauen. »Vor einer Woche.«
      »Das tut mir leid. Ich wusste es nicht und-«
      Ich unterbreche sie. »Es ist kein Problem. Du konntest es schliesslich nicht wissen.« Mit diesen Worten ist das Gespräch für mich auf beendet, da ich nicht vorhabe den Grund dafür zu sagen. Auch wenn sie eine wirklich gute Freundin ist. Zum Teil ist es mir auch einfach peinlich.
      Langsam trudeln auch alle anderen ein. Zudem auch Ruggero. Ich habe ihm einen kurzen Blick zugeworfen, den er mit so einer Kälte erwidert hat, dass mir augenblicklich schlecht wurde.
      Naja, jetzt sitze ich hier auf meinem Bett, umgeben von all meinen Freundinnen und lasse die mitleidigen Blicke über mich ergehen, was mich nahezu in den Wahnsinn treibt. »Leute, könnt ihr aufhören mich so anzusehen?«, frage ich halb belustigt, halb ernst.
      »Aber wieso habt ihr euch getrennt? Ihr wart ein echt süsses Paar«, entgegnet Katja.
      Wieder verdrehe ich meine Augen. Diese Frage habe ich in den letzten zwei Stunden gefüllte dreihundert Mal beantwortet. »Wir haben einfach festgestellt, dass wir nicht zueinander passen.« Mein Blick schweift zu Carolina, die gedankenverloren auf dem gegenüberliegenden Bett sitzt und ins Leere starrt. Sie ist die einzige, die mich mit ihren Fragen verschont hat.
      Als sich alle wieder ihren eigenen Gesprächen widmen, die sich wahrscheinlich trotzdem um Ruggero und mich drehen werden, stehe ich langsam auf und laufe zu ihr rüber. Langsam lasse ich mich neben ihr nieder. Erschrocken zuckt sie zusammen, was mir ein leichtes Lächeln entlockt.
      »Du hast mich voll erschreckt«, sagt sie und berührt mit einer Hand die Stelle über ihrer Brust.
      »Tut mir leid«, erwidere ich, lache aber trotzdem. »Was ist mit dir los? Du siehst so gedankenverloren aus.«
      Theatralisch seufzt sie und lässt sich nach hinten fallen. »Am liebsten würde ich meine Gedanken einfach ausschalten. Einfach mal an nichts denken.« Wieder seufzt sie. »Das wäre schön.«
      »Was wäre schön?«, fragt Malena und legt sich neben Carolina. Ich lege mich ebenfalls dazu und erkläre ihr die Situation.
      »Die Gedanken ausschalten.«
      Auch sie nickt und zusammen sehen wir auf das Lattenrost von dem oberen Bett.
      »Die Aussicht ist nicht wirklich entzückend«, stelle ich fest und setze mich wieder in den Schneidersitz.
      »Stimmt, ich habe schon schöneres gesehen.« Gespielt enttäuscht presst Malena ihre Lippen zusammen. Wir lachen beide auf, doch Carolina scheint wirklich wieder von ihren Gedanken eingeholt worden zu sein.
      »Hey, vielleicht können wir sie nicht ausschalten, aber wir können an etwas Anderes denken«, versuche ich sie aufzumuntern. Was auch immer ihr durch den Kopf gehen mag, es muss echt etwas Wichtiges sein.
      »Ich stelle mir nur gerade einen blauen Himmel mit Wolken vor, aber diese Bretter stören mein Vorstellungsvermögen«, verteidigt sie sich.
      Chiara setzt sich in diesem Moment neben mich und zieht den Kopf ein, da sie ihn ansonsten oben anschlagen würde. »Über was habt ihr geredet?«, erkundigt sie sich.
      Mit einer Hand zeige ich auf den Lattenrost. »Über diese schönen Bretter.«
      Sie sieht mich verwirrt an. Ich tausche einen kurzen Blick mit Malena und Caro und schliesslich beginnen wir alle zu lachen.

Ruggarol - Verlorene ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt