46. Kapitel

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Ruggero 

Stumm liege ich in meinem Bett und betrachte die Decke. Meine Gedanken wandern abwechslungsweise von Karol zu Lucia, so heisst die, die ich in diesem Café getroffen habe.
      Ich erinnere mich noch genau an Karols Blick vorher. Sie sah so gestresst und einfach nur fertig aus. Mir schien, als hätte sie Lucia neben mir nicht einmal wahrgenommen. Ob ich ihr nach der Zeit schon so egal geworden bin? Ist sie mir denn auch egal geworden? Wieso habe ich dann ein schlechtes Gewissen, weil ich heute mit Lucia ausgegangen bin?
      Seufzend drehe ich mich auf die Seite und schliesse meine Augen. Es ist bereits weit über Mitternacht und ich bin extrem müde, aber meine Gedanken lassen mich einfach nicht in Ruhe.
      Zum Abendessen ist Karol nicht erschienen. Ich habe versucht ganz unauffällig nach ihr zu fragen, aber niemand wusste, wieso sie nicht runter gekommen ist. Nur Ana hat mir gesagt, dass sie sich in ihrem Zimmer eingesperrt hat und seit Stunden nicht rausgekommen ist. Ich mache mir ernsthafte Sorgen um sie.
      Während sie vor Sorge um ihre Mutter fast stirbt, treffe ich mich mit anderen Mädchen. Toll.
      Wieder wechsele ich meine Seite. Ich weiss, dass ich sie immer noch liebe. Ich werde nie mehr jemanden so sehr lieben wie Karol und das weiss ich selber ganz genau.
      Als ich am nächsten Morgen aufwache fühle ich mich wie gerädert. Stöhnend setze ich mich auf  und beginne mich bereit zu machen.
      Unten im Frühstückssaal warte ich ungeduldig darauf, dass Karol runter kommt, aber ich warte vergeblich.
      Erst als ich mit dem Essen fertig bin, kommt sie langsam angetrudelt. Und alles an ihr deutet wieder auf eine Schlaflose Nacht an. Tiefe Augenringe, schläft während dem Essen fast ein und beteiligt sich an gar keinen Gesprächen. Ich merke, wie nicht nur ich, sondern alle ihr besorgte Blicke zuwerfen. Sie scheint es aber nicht zu bemerken. Seelenruhig schaufelt sie sich Löffel für Löffel Müsli rein.
      Ich ertrage diesen Anblick einfach nicht, weil es mir das Herz zerreisst. Als fast alle aufgestanden sind und nur noch Karol, Katja und ich am Tisch sitzen, wage ich mich zu ihr rüber.
      »Karol?«, frage ich und setze mich neben sie auf einen Stuhl.
      Sie zuckt zusammen und sieht langsam zu mir rüber. »Hm?«
      Katja macht mir über Zeichensprache klar, dass sie geht, woraufhin ich kaum merklich nicke.
      »Wie geht es dir?« Ich sehe sie an und warte auf eine Antwort, die jedoch nicht kommt. »Karol«, sage ich noch einmal.
      Immer noch scheint sie nicht zu wissen, was sie sagen soll, bis sie sich schliesslich fast schon ruckartig an mich wendet. »Gut und dir?«
      Diese Antwort überrascht mich, weshalb ich genauso wie sie einfach nichts sage.
      »Hör mal. Du musst dir keine Sorgen um mich machen. Es geht mir gut. Geniess deine Zeit hier und verschwende sie nicht mit unnötigen Sachen.« Kurz lächelt sie mir noch zu, dann steht sie auf und verschwindet.
      Mit offenem Mund starre ich ihr hinterher. Mein Körper reagiert leider viel zu spät und ich renne die ganzen Stufen zu ihrem Zimmer rauf, doch ich sehe nur noch, wie sie die Tür hinter sich schliesst. Keuchend bleibe ich stehen und lehne mich gegen die Wand.
      »Scheisse«, fluche ich und kneife meine Augen zu. Während ich versuche meine Atmung wieder zu normalisieren, höre ich Schritte.
      »Ist alles okay mit dir?«, fragt Agus und sieht mich halb besorgt, halb belustigt an.
      Ich erwidere seinen Blick und nicke. »Mir ist es noch nie besser gegangen«, antworte ich und gehe in das gegenüberliegende Zimmer. Er folgt mir und lässt sich auf die Couch fallen.
      Agus und ich teilen uns ein Doppelzimmer, während die anderen in einem Viererzimmer schlafen.
      »Du siehst so aus, als wärst du einen halben Marathon gelaufen«, nimmt er das Gespräch wieder auf und zieht seine Augenbrauen in die Höhe.
      Ich setze mich neben ihm auf die Couch und seufze. »Ich bin Karol hinterhergerannt.«
      Fragend sieht er mich an, doch ich winke mit einer Hand ab.
      »Wie ist eigentlich dein Date gestern verlaufen?« Habe ich nur das Gefühl, oder liegt etwas Misstrauisches in seiner Stimme? Als ich ihm von Lucia erzählt habe, hat er mich auch schon skeptisch angesehen.
      »Erstens war es kein Date und Zweitens ist sie irgendwie merkwürdig.«
      »Wie merkwürdig?«, fragt er.
      »Merkwürdig halt.«
      Gespielt überrascht stösst er die Luft aus. »Wow.«
      Ich beginne zu Lachen und fahre mir durch die Haare. »Sie hat versucht mich zu küssen«, sage ich.
      »Und was hast du gemacht?« Er wackelt mit den Augenbrauen, was ich möglichst versuche zu ignorieren.
      »Mich weggedreht«, erwidere ich und beginne zu Grinsen. »Aber ansonsten ist sie bis jetzt ganz nett.«
      Er nickt verstehend. »Und was ist mit Karol?«
      Ich seufze. »Ich habe ja nicht gesagt, dass ich mich gleich in die nächste Beziehung stürzen werde.«
      Plötzlich wird sein Blick ganz ernst, was mir leicht Angst macht. »Hör zu«, beginnt er. »Wie heisst die? Lisa?«
      »Lucia«, verbessere ich ihn.
      Wieder nickt er. »Also diese Lucia. Sie macht auf mich einen komischen Eindruck. Wenn ich du wäre, würde ich aufpassen. Man weiss nie, ob solche Leute nicht vielleicht doch verrückte Fans sind, oder so.«
      Ich ziehe meine Augenbrauen zusammen. »Wieso sagen das alle?«
      Auch er sieht mich fragend an. »Was meinst du mit alle?«
      »Ich habe sie ja des erste Mal in diesem Café getroffen und dort haben mir Lio und Gaston gesagt, dass sie extra in mich reingelaufen ist.«
      »Kann ich mir gut vorstellen«, murmelt er.
      »Wie gesagt«, ich lehne mich zurück und strecke meine Beine aus, »ich habe nicht vor, mich gleich in die nächste Beziehung zu stürzen.«
      »Klar, zudem du Karol immer noch liebst«, erwidert er.
      Ich sage nichts, weshalb er das Thema wechselt. »Wir haben nicht mehr viele freie Tage. Bald ist die Tour vorbei.«
      Traurig nicke ich. Ich werde die Atmosphäre im Bus vermissen. Genauso das Gefühl auf der Bühne zu stehen, zu singen und zu tanzen.

Ruggarol - Verlorene ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt