Epilog

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Ich nahm jede einzelne ihrer Bewegungen wahr und blieb dicht an ihrer Seite. Sie zeigte keine äußerlichen Zeichen, die ihren Hunger preisgaben, doch ich konnte mir gut vorstellen, wie es in ihrem Innern aussehen musste. Der Wald verdichtete sich vor uns, doch der Geruch der beiden Wanderer, die sich einige hundert Meter von uns entfernt befanden, wurde immer stärker.

„Ich glaube, ich schaffe es nicht", murmelte Mary und warf mir einen angsterfüllten Blick zu. Ihr schottischer Akzent wurde besonders stark, wenn sie sich gestresst fühlte, wie ich es in den letzten Tagen schon häufiger festgestellt hatte. Es amüsierte mich jedes Mal wieder aufs Neue.

Mary war ein Sonderfall in meiner Gruppe junger Vampire. Im Gegensatz zu den meisten anderen nahm sie erst seit zwei Wochen an meinem Unterricht teil, aber dennoch war sie weiter als alle anderen.

Ich schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln und griff nach ihrer Hand.

„Mach dir keine Sorgen. Falls du dem Drang nicht standhalten kannst, bin ich ja auch noch da. Wir werden nicht näher als hundert Meter an sie herangehen."

Mary schluckte. Hundert Meter waren nichts. Und ich wäre dieses Risiko niemals mit einem der anderen Jungvampire eingegangen, aber Mary war anders. Seit sie vor zwei Monaten verwandelt worden war, weinte sie jedes Mal stumme Tränen, wenn sie von einem Menschen getrunken und ihn dabei versehentlich getötet hatte. Es gab selten Jungvampire, die solche Schwierigkeiten damit hatten, mit ihrer neuen Situation umzugehen. Ein Stück der Menschlichkeit verschwand nun mal einfach, wenn man sich verwandelte.

Als Edward und ich vor fünf Jahren nach England gekommen waren, hatten wir versucht, uns hier eine neue Existenz aufzubauen. Da er über genügend Reichtum verfügte, dass wir ohne Probleme für immer und ewig in Luxus leben konnten, hatten wir uns anfangs keine Gedanken über eine Beschäftigung jedweder Art gemacht, da wir große Probleme hatten, unser Schlafzimmer überhaupt zu verlassen. Ich lächelte bei dem Gedanken daran und bemerkte sofort, wie sich das Verlangen nach ihm in mir bemerkbar machte. Ich drängte es an den Rand meines Bewusstseins, um mich auf die Gegenwart konzentrieren zu können.

Etwa ein Jahr nach unserer Ankunft waren wir auf einen Jungvampir getroffen, der offensichtlich Schwierigkeiten hatte, sich über unschuldige Menschen herzumachen. Ich hatte Edward gebeten, ihn für eine Zeit bei uns aufzunehmen, um ihm meine Lebensweise näher zu bringen. Es war zwar auch nichts Schönes, unschuldige Tiere zu töten, aber das taten die Menschen schließlich auch.

Edward hatte mich gewähren lassen und sogar angeboten, mir in meinem Vorhaben, den jungen Vampir an Tierblut heranzuführen, zur Seite zu stehen. Zu diesem Zweck hatte auch er ein paar Mal Tierblut zu Vorführungszwecken getrunken, auch wenn er anfangs ein angewidertes Gesicht gezogen hatte. Nach einiger Zeit und als ich noch ein paar weitere Schüler gefunden hatte, hatte er mir gesagt, dass man sich an den Geschmack gewöhnen könnte. Ich wusste, dass er den Geschmack noch immer abstoßend fand und dass er mir zur Liebe kein Menschenblut mehr trank, doch ich war froh darüber. Keiner meiner Schüler würde meine Versuche, sie von Tierblut zu ernähren, ernstnehmen, wenn mein eigener Mann sich von Menschenblut ernährte.

Natürlich hatte Aro irgendwann Wind von meiner kleinen Schule bekommen, doch zu diesem Zeitpunkt hatten wir bereits genügend Anhänger gefunden, dass es ein zu großes Aufwand für ihn gewesen wäre, sich uns in den Weg zu stellen. Zu meiner und Edwards übergroßer Erleichterung hatte er mich aufgegeben, nachdem wir nach England gegangen waren.

Ich nahm eine abrupte Bewegung neben mir wahr und reagierte sofort. Meine Hand schloss sich fest um Marys und ich lief an ihr vorbei, um mich in ihren Weg zu stellen. Wir stoppten, doch ihre Augen brauchten einen Moment, um sich auf mein Gesicht zu fokussieren. Die Gier wich aus ihren Zügen und ein bekümmerter Ausdruck legte sich darüber.

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