Kapitel 10

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Nachdem die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, herrschte ein unangenehmes Schweigen.

Dieses Mal blieb Edward stehen, trat nur ein wenig näher an mich heran.

„Ich weiß, dass ich gestern die Kontrolle verloren und dir Angst gemacht habe, Isabella. Das war unverzeihlich", begann er und ich merkte, dass er sehr vorsichtig sprach.

„Aus diesem Grund möchte ich jedenfalls versuchen, dir mein Verhalten zu erläutern, vielleicht kannst du es dann ein wenig verstehen."

Da er mich daraufhin abwartend anschaute, nickte ich kurz. Allerdings vermied ich es, ihn ebenfalls anzuschauen, da ich Angst hatte, dass ich den Blick dann nicht mehr von ihm abwenden würde können. Ich konnte nicht bestreiten, dass sein Äußeres eine beängstigend hohe Anziehung auf mich ausübte.

„Seit ich . . . verwandelt worden bin, ist es mir möglich, die Gedanken meiner Mitmenschen zu lesen. Eigentlich höre ich sie eher in meinem Kopf. Manchmal kann das sehr nützlich sein, beispielsweise, wenn ich etwas wissen möchte. Es erfordert allerdings einige Anstrengung und steigert meinen Durst, aus diesem Grund vermeide ich es so gut es geht."

Es steigerte seinen Durst nach . . . Blut. Ich zögerte einen Augenblick. Daher also wusste er, dass mein Onkel mich verkauft hatte. Er hatte es den Gedanken dieser abstoßenden Kreaturen entnommen.

„Kann Eure Schwester auch Gedanken lesen?", fragte ich.

Edward schaute mich einen Moment lang überrascht an. Wahrscheinlich hatte er nicht damit gerechnet, mir heute noch ein Wort entlocken zu können – ich ehrlich gesagt genauso wenig. Doch nun breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus und ich beging den Fehler, ihn anzuschauen.

Mir kam der Gedanke, dass wenn man sein Gesicht in Stein meißeln und seine Statue in einen römischen Tempel stellen würde, er ohne Zweifel als Gott angesehen werden würde. Als ein unglaublich schöner Gott.

„Nein, das kann sie nicht. Nicht alle Vertreter unserer Art besitzen eine besondere Fähigkeit. Es steht jedoch außer Frage, dass sie manchmal ein sehr gutes Gespür für die Gemüter anderer Menschen hat. Aber ich möchte nicht über die Fähigkeiten meiner Schwester mit dir sprechen."

Er erwiderte meinen Blick ruhig, noch immer lächelnd. Innerlich stöhnte ich auf. Statt dass ich mich von ihm fernhielt, schaffte ich es nicht einmal, meinen Blick von ihm abzuwenden.

„Bei dir ist es anders. Als wir dich in der Nacht gefunden haben, dachte ich, dass es vielleicht mit deiner Erschöpfung zusammenhängen könnte. Doch auch am nächsten Tag sowie gestern konnte ich deine Gedanken nicht lesen. Das ärgerte und ärgert mich noch immer ungemein, denn so etwas ist mir noch nie passiert. Außerdem konnte ich es nicht fassen, dass gerade du, ein kleines, hilfloses Mädchen – entschuldige - mich meiner Fähigkeiten beraubst."

Er legte eine kleine Pause ein, die ich dazu nutzte, die Augen von seinen wohlgeformten Lippen abzuwenden und prompt zu erröten, da er meinen Blick gewiss bemerkt hatte. Doch falls dies der Fall war, so ließ er es sich nicht anmerken.

„Und gestern hörte ich vollkommen unvorbereitet auf einmal deine Stimme in meinem Kopf. Nachdem ich eigentlich schon davon ausgegangen war, dass es bei dir einen . . . Fehler gibt, kam mir der Gedanke, du könntest ein Spiel mit mir spielen. Das ist der Grund, warum ich so reagiert habe. Und das Merkwürdigste ist, dass ich mich nicht einmal bemühen musste, um deine Gedanken zu lesen. Ich habe sie einfach gehört."

„Aber . . .", setzte ich an, brach dann aber wieder ab.

Es war bestimmt besser, wenn ich zu diesem Thema keine Fragen stellte, denn augenscheinlich brachte es ihn sehr auf. Und auch wenn Alice mir gerade versichert hatte, dass ich ihrem Bruder trauen konnte, kam mir immer wieder der zorngetränkte Ausdruck seiner Augen in den Sinn.

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