Kapitel 4

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Nachdem die Tür hinter Jonathan ins Schloss gefallen war, hefteten sich Edwards Augen wieder auf mich. Mir gefiel es nicht, dass er mich immerzu ansah, denn ich wusste nicht, warum er es tat. Mein Onkel hatte mich kaum eines Blickes am Tag gewürdigt in all den Jahren, die ich nun schon bei ihm wohnte.

„Wenn wir dich allein lassen, wirst du dann etwas essen?", erkundigte sich Edward und erhob sich mit einer flüssigen Bewegung von dem Stuhl.

Ich dachte einen Moment lang über seine Frage nach und sah ihm an, dass er ungeduldig wurde, weil ich mir so lange Zeit ließ mit einer Entscheidung. Schließlich nickte ich. Ich würde mich besser fühlen, wenn ich allein war.

Sofort erhob sich auch Alice. „Guten Appetit", flötete sie und war zur Tür hinausgeeilt, bevor ich ihr hatte danken können, denn das hatte ich vorgehabt. Ich mochte sie, auch wenn ich sie nicht kannte. Jedenfalls vertraute ich ihr mehr als den anderen beiden. Auch fand ich es sehr mutig von ihr, mit diesen Männern unter einem Dach zu leben.

„Meine Schwester ist nur für ein paar Tage hier", sagte Edward und der Klang seiner Stimme ließ mich ihm wieder das Gesicht zudrehen. Trotz der Farbe seiner Augen lag ein besorgter Ausdruck darin.

„Sie besitzt eine sehr aufgeweckte Persönlichkeit, manchmal ein bisschen zu aufgeweckt. Wenn sie zu weit geht, sag es ihr einfach, sie wird es dir nicht übelnehmen."

Ich rang mich zu einem Nicken durch.

„Ich werde in einer halben Stunde wieder nach dir sehen. Iss so viel du magst, wir haben reichlich", erklärte er und schenkte mir ein kleines Lächeln, das seine roten Augen zum Glühen brachte. Einen Moment lang war ich ehrlich verwirrt und schaffte es nicht, den Blick abzuwenden. War das wirklich nur eine Fassade oder war seine Freundlichkeit echt?

Meine Augen folgten ihm, als er den Raum verließ. Sobald ich wieder alleine war, atmete ich auf. Sofort griff ich nach dem Glas Wasser, das er mir eingegossen hatte, und stürzte es mit gierigen Schlucken meine ausgedorrte Kehle hinunter. Es war die reinste Wohltat.

Ich fragte mich, woher das Wasser kam. Sicherlich nicht aus dem Stadtbrunnen, denn daraus konnte man - wenn überhaupt - nur eine dunkle Brühe herausziehen, die selbst nach mehrmaligem Abkochen niemals so rein und sauber schmeckte wie dieses Wasser.

Dann aß ich den Apfel, der in meinem Schoß lag, und ignorierte dabei wohlweißlich das Märchen von Schneewittchen. Auch einen Bruchteil des Brotes und ein Stückchen Käse aß ich, außerdem das Ei. Anschließend war mein Bauch so voll, dass ich meinte, platzen zu müssen. Mir wurde sogar ein wenig übel, aber es war dennoch ein schönes Gefühl, endlich mal wieder gesättigt zu sein.

Einen Augenblick lang überlegte ich, ob ich es wagen konnte, aufzustehen. Schließlich siegte meine Neugierde und ich erhob mich aus dem Bett.

Kurz schwankte ich, doch nach ein paar Sekunden hatte ich mich wieder gefangen.

Alles hier war so unglaublich sauber. Der Boden, die Regalblätter, und von den Wänden blätterte nichts ab. Edward musste eine wirklich gute Haushälterin haben.

Ich schaute an mir herunter. Das Nachtkleidchen war mir ein wenig zu kurz, bestimmt hatte Alice es mir geliehen. Ich spürte ein frisches Ziehen im Rücken und stellte entsetzt fest, dass es dort sehr gewagt ausgeschnitten war.

Kurz haderte ich mit mir. Sollte ich mich wieder hinlegen, falls nun jemand hineinkam?

Doch in diesem Moment erhaschte ich einen Blick auf mein Spiegelbild inmitten des Goldrahmens und trat fasziniert näher. Einen echten Spiegel, so kunstvoll und glatt gearbeitet, hatte ich noch nie gesehen.

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