Kapitel 2,5 - Edwards Sicht

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Meine Schwester ließ den Körper des Mannes, von dem sie getrunken hatte, behutsam zu Boden gleiten und leckte sich die Lippen. Der Mann gab ein paar undeutliche Laute von sich und begann das Bewusstsein zu verlieren. Später würde er aufwachen und das erlebte als einen Alptraum abtun. Oder aber er würde sich gar nicht mehr daran erinnern, was dem Alkoholgestank, den er ausdünstete, eher entsprach. Es war mir ein Rätsel, dass der unreine Geschmack, der seinem Blut anhaften musste, meiner Schwester nichts ausmachte. Was dies betraf, handelte es sich bei mir um einen echten Feinschmecker.

Ich hatte mich zuvor bereits an einem älteren Mann sattgetrunken. Auch das war nicht unbedingt der Geschmack, den ich bevorzugte, doch meine Schwester würde in wenigen Minuten zum Rest meiner Familie zurückkehren und es hatte in der näheren Umgebung keine große Auswahl gegeben.

„Habe ich dir erzählt, dass Carlisle sich vor einigen Tagen an einer alternativen Ernährungsart versucht hat?", erkundigte sich meine Schwester.

Ich verneinte und hörte aufmerksam zu, wie sie mir von einer Ernährung durch Tierblut erzählte. Allein den Gedanken, den reinen, vollen Geschmack von Menschenblut gegen das von Tieren einzutauschen, fand ich abschreckend.

„Wie ist es ihm bekommen?"

Mir war bewusst, dass besonders Carlisle davon gequält wurde, dass er sich von Menschen ernähren musste. Wenn es eine Alternative gäbe, würde ich mich für ihn freuen. Auch wenn ich niemals selbst von einem Tier trinken würde.

„Ich bin ein paar Stunden nach dem Versuch abgereist, aber zu dem Zeitpunkt war er der Meinung, dass es seinen Hunger gestillt habe", erläuterte Alice.

„Das freut mich", antwortete ich ehrlich.

Wir machten uns auf den Rückweg zu meinem Haus. Da es Nacht war, konnten wir uns schneller fortbewegen als tagsüber, wenn die Straßen mit Menschen überfüllt waren. Aus diesem Grund bevorzugte ich die Nacht, während der ich mich nicht verstellen musste und während der meine wahre Natur zum Vorschein kommen konnte.

Nachdem wir etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, hörte ich sie zum ersten Mal. Es war ein verzweifelter Schrei aus tiefstem Herzen, der ganz leise an mein Ohr drang. Ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, verlangsamten sich meine Schritte, bis ich schließlich stehen blieb.

Ich sah, wie nun auch Alice mit großen Augen aufhorchte und nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde nachdem ich stehen geblieben war, in Richtung des Schreis davonrannte. Ohne zu zögern folgte ich ihr und überholte sie schließlich, denn mit meiner Geschwindigkeit konnten nur wenige Vertreter meiner Art mithalten.

Stimmen von mindestens zwei Männern wurden lauter und meine Schritte beschleunigten sich noch ein wenig. Das Mädchen hatte aufgehört zu schreien, doch ich konzentrierte mich auf die Gedanken der Männer. Natürlich waren es Vampire. Und was ich noch erfuhr, war, dass sie für Aro arbeiteten. Diese Information ließ mich für einen Moment innehalten. Allerdings nur so lange, bis ich wieder ein leises Wimmern vernahm.

Vergeblich suchte ich nach ihren Gedanken, doch dort war nichts. Ich versuchte es stärker, aber mich empfing nur Schwärze. Aus welchem Grund konnte ich ihre Gedanken nicht lesen? Ob sie bereits das Bewusstsein verloren hatte? Doch selbst dann würde ich noch ein paar Gedankenfetzen zu Ohren bekommen. Merkwürdig.

Ich wusste genau, was die drei Vampire mit ihr vorhatten. Und obwohl ich noch vor einigen Jahren nicht unähnlich gehandelt hatte, konnte ich sie ihnen in diesem Moment nicht einfach überlassen. Es war der abgrundtief verzweifelte Ton ihrer Stimme gewesen und die Tatsache, dass ich ihre Gedanken nicht lesen konnte, die mich noch schneller werden ließen.

Dann sah ich sie vor mir, am Rand der großen Kreuzung. Seitdem ich losgerannt war, waren erst etwa zehn Sekunden vergangen, doch ich hatte das Gefühl, nicht schnell genug gewesen zu sein. Auf jeden Fall war ich zu spät gekommen.

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