Kapitel 6

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Ich rief mir Jonathans Worte noch einmal ins Gedächtnis.

Er hatte gesagt, ich solle mich vor Edward in Acht nehmen. Die Gründe dafür waren auch mir mehr als offensichtlich, denn er war, wie er selbst zugegeben hatte, kein Mensch. All seine Fähigkeiten wirkten beinahe übernatürlich und das machte mir eine nicht zu geringe Angst.

Doch da war noch etwas, das meinen Herzschlag dazu brachte, sich zu beschleunigen. Jonathan hatte von einem anderen Mal gesprochen, an dem Edward ein Mädchen hier gehabt hätte, das mir sehr ähnlich gesehen habe. Und es habe nicht lange durchgehalten. Das waren seine Worte gewesen.

Als mir die Bedeutung dahinter deutlich wurde, fröstelte es mich. Was hatte er ihr angetan? Und was hatte er mit mir vor?

Ich hielt mir den Kopf, denn von dem ganzen Nachdenken wurde mir schwummerig.

Und Jonathan hatte noch etwas gesagt, das mich viel mehr als alles andere beunruhigte. Er hatte sich gefragt, ob Edward mich mit ihm . . . teilen würde.

Da Jonathan offensichtlich ein Mensch war und so hoffentlich keine Blutlust verspürte, blieben nicht viele Möglichkeiten, wie man dieses Teilen auslegen konnte. Als mir das erst einmal bewusst geworden war, schloss ich die Augen und atmete tief durch.

Woran war das andere Mädchen zerbrochen?

Und hatte es dieses Mädchen überhaupt gegeben, oder war es am Ende bloß eine Erfindung Jonathans? Es bliebe mir die Möglichkeit, mich an dieser zweiten Erklärung festzuklammern, doch ehrlich gesagt zweifelte ich stark daran.

Die beiden kleinen Wunden an meinen Hals schmerzten flammend auf und ich zuckte zusammen. Was, wenn Edward am Ende um keinen Deut besser war als meine Angreifer?

Dieses Unvermögen, ihn einschätzen zu können, ängstigte mich am meisten.

Ich wollte hier weg. Selbst bei meinem Onkel hatte ich mich all die Jahre lang besser gefühlt als in diesem Moment. Dort hatte ich keinen Wohnkomfort gehabt, war schlecht behandelt worden und hatte Drogen verkaufen müssen, doch niemand hatte mir ernsthaft etwas antun wollen.

Und nun gab es da Jonathan, der ganz sicher nichts Gutes im Sinn hatte und Edward, diesen undurchsichtigen, gefährlichen, engelsgleichen Mann.

Ich sollte wieder nach Hause gehen.

Mein Blick fiel auf den Stapel Kleider, der unberührt auf dem kleinen Tischchen lag. Jedes einzelne Gewand musste ein Vermögen gekostet haben. Dessen war ich mir sicher, obwohl ich sie nicht einmal in voller Pracht gesehen hatte.

Dann sah ich an mir herunter, an dem freizügigen blauen Kleidchen. Während ich es trug, konnte ich auf keinen Fall hinaus auf die Straße gehen. Dass es sich nicht gehörte, so gekleidet das Haus zu verlassen, spielte dabei nur eine kleine Rolle. Vielmehr hatte ich Angst vor einem neuerlichen Übergriff.

Ich würde mich umkleiden müssen.

Es waren in der Summe fünf Kleider, die dort auf dem Stapel lagen. Allesamt schienen sie geradezu nach Aufmerksamkeit zu schreien. Edward hatte gesagt, dass man nach mir suchen würde. Und falls dies tatsächlich der Fall war, würden diese farbenprächtigen Gewänder mich zu einer leichten Beute machen. Mir blieb allerdings keine andere Wahl.

Also griff ich nach dem unauffälligsten der fünf, einem dunkelgrünen, samtenen Kleid mit einem recht ausladenden Rock und hochgeschlossenem Kragen. Im Gegensatz zu meinem alten Kleid würde dieses mich auch im Winter warm halten.

Bevor ich mich allerdings umkleidete, schlüpfte ich aus dem Bett, um zur Tür zu gehen. Ein Schlüssel steckte bedauerlicherweise nicht im Schloss, doch das hätte mich auch sehr gewundert.

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