Kapitel 1

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Was letzte Mal geschah

Jonas hat seinem Geburtsort den Rücken gekehrt und ist fürs Studium nach Berlin gezogen. Dort hat er einen ersten Eindruck bei den Nachbarn hinterlassen, seine Eltern zum vorläufig letzten Mal umarmt und sich mithilfe schneller Internetverbindung und exhibitionistisch veranlagter Kerle kräftig einen von der Palme gewedelt.

Kapitel 1

Der Duft nach frisch aufgebrühtem schwarzem Tee umwehte Jonas' Nase. „Hier, Frau Kleiber. Assam, kein Zucker, etwas frische Milch." Er stellte die Tasse auf dem Tisch ab, an dem soeben ein älteres Ehepaar platzgenommen hatte. „Ihr Kaffee kommt gleich, Herr Kleiber. Wir haben heut übrigens 'nen wunderbaren Himbeerkuchen. Ich durfte schon 'n Stück, ähm, nennen wir es ‚vorkosten'." Von Jonas' erstem Arbeitstag an, kam das Ehepaar Kleiber jeden Nachmittag in das kleine Café, bestellte Tee und Kaffee und fragte nach dem Kuchenangebot des Tages.

„Ach, Jonas, Sie sind wirklich eine echte Perle", lobte Frau Kleiber, nachdem sie vorsichtig an ihrem Tee genippt hatte. „Willie und Helga haben so ein Glück, Sie gefunden zu haben."

Verlegen winkte Jonas ab. „Ich mach doch bloß meinen Job." Mal ganz davon abgesehen, dass Frau Kleiber ihn an seinem ersten Tag dreimal zurück in die Küche geschickt hatte, weil der Tee nicht perfekt zubereitet gewesen war. Das Wasser war zu heiß, das Wasser war zu kühl, der Tee zulange gezogen, nein, selbst aufgießen würde sie ganz sicher nicht. Eine ‚echte Perle' war man bei ihr vermutlich schon dann, wenn man in den vierten Versuch nicht hineinspuckte und anschließend kündigte. „Soll ich Ihnen zwei Stück vom Himbeerkuchen bringen?", fragte Jonas mit seinem geduldigsten Lächeln.

„Bitte, tun Sie das."

Jonas eilte zur Theke, machte sich daran, zwei großzügige Kuchenstücke abzuschneiden und nickte einem anderen Gast zu, der ihm signalisierte, zahlen zu wollen.

„Jonas, du bist ja noch da."

Die brummige Stimme seines Chefs ließ ihn zusammenzucken. „Wo sollt ich denn sonst sein?"

„Musst du nicht zur Uni? Deine Schicht ist seit einer halben Stunde vorbei."

„Was?" Panisch holte Jonas sein Handy aus der Tasche, warf einen Blick auf die Uhrzeit. „Fuck, das hab ich völlig übersehen. Ich, ähm, ich kassier noch schn–"

„Jetzt geh schon", wies sein Chef ihn an.

„Wir haben meine Schichten für nächste Woche noch nich' geklärt!"

„Ruf nach der Uni einfach kurz durch. Oder morgen, das reicht auch noch. Jetzt geh, du willst dein Studium doch nicht schon im ersten Semester vergeigen."

Dankbar schlüpfte Jonas nach hinten, entledigte sich seiner Schürze und tauschte das dunkle Hemd gegen Kapuzenpulli und Lederjacke. Hastig eilte er zum Ausgang, drehte sich an der Tür jedoch noch einmal um und winkte. „Bis nächste Woche!"

Jonas stürzte durch den kühlen Herbstregen, trampelte blind durch Pfützen, trat in der eindeutig zu langsamen Bahn ungeduldig auf der Stelle, hetzte die letzten Meter zur Uni und die viel zu vielen Stufen nach oben, bis er abrupt vor dem Vorlesungssaal stoppte. Dort holte er einmal tief Luft, bevor er möglichst leise durch die Tür schlich. Glücklicherweise ließ sich der Dozent durch die Störung nicht aus der Ruhe bringen und fuhr mit seinem Vortrag fort, als hätte er Jonas' Existenz gar nicht registriert. Nach kurzer Suche strebte Jonas zielgerichtet auf die hintere Reihe zu, in der er gewellten Himmel, goldene Locken und schwarze Seide entdeckt hatte.

„Hey! Hab ich was verpasst?", fragte er flüsternd die drei Kommilitonen, die er nach den ersten Wochen am ehesten als seine Freunde bezeichnen konnte.

Raupe im NeonlichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt