Was zuletzt geschah:
Jonas' Wochenende in Stuttgart bleibt spannend. Marcos und Dragos Zukunftspläne werfen die Frage nach seinen eigenen auf – und damit zwangsweise auch Eriks. Vieles liegt noch im Nebel, so manches muss ausgehandelt werden, aber etwas ist bereits ganz klar: Jonas' Besuch bei Eriks verbleibender Familie steht vor der Tür.
Kapitel 39
„Scheiße, ich hätte auf das zweite Sandwich verzichten sollen. Bin immer noch total vollgefressen." Theatralisch seufzend rieb Jonas über seinen gewölbten Bauch, schaffte es aber nicht, Eriks Aufmerksamkeit zu erregen. „Hey!"
Erik schreckte aus seiner Starre und lächelte gequält. „Entschuldige, hast du gerade was gesagt?"
„Schon gut, war nich' wichtig."
Der Sonntag hätte kaum schöner beginnen können. Das Wetter war ihnen noch immer hold und der strahlende Sonnenschein ausgesprochen hilfsbereit, sie ungewohnt früh aus den Federn zu treiben. Erik hatte sich nach dem Frühstück klaglos durch das Stuttgarter Kunstmuseum schleifen lassen, beim Mittagessen im Tässchen Jonas' Monolog über das gerade Gesehene gelauscht und kein Wort der Kritik verlauten lassen, als Jonas anschließend zu tief in sein frisch erstandenes Buch über die Geschichte der Fotografie versunken war, um noch irgendetwas um ihn herum zu bemerken.
Selbst die unterdurchschnittliche Komödie – der einzige Film, der nachmittags in dem Kino lief, das Erik in seiner Kindheit mit seinen Eltern besucht hatte – war erträglich gewesen. Hauptsächlich, weil sie sich in die letzte Reihe verzogen und ab da nicht mehr viel davon mitbekommen hatten. Doch mit jeder Minute, die das Abendessen bei seiner Tante näher rückte, wurde Erik stiller.
Jetzt standen sie im Hotelzimmer, quasi aufbruchbereit und musterten sich gegenseitig, als warteten sie darauf, dass der jeweils andere zuerst einen guten Grund fand nicht hinzugehen. „Wir könnten sagen, dass ich mir den Magen verdorben hab", schlug Jonas vor, in der Hoffnung, Eriks Stimmung ein wenig aufzuheitern. Erfolglos allerdings; Erik sah genauso düster drein wie zehn Sekunden zuvor. „Okay, dann nich'. Ich bin eh nich' besonders scharf drauf, dass Leute, die ich nich' kenn sich vorstellen, ich würd grad aufm Pott hocken und mir die Seele ausm Leib scheißen. Aber ganz ehrlich? Wenn du lieber nich' hinwillst, is' das doch völlig in Ordnung. Dann sagen wir eben ab. Und du kannst es ruhig auf mich schieben! Notfalls halt doch mit der Durchfallsache."
Kein Lacher, aber Erik wirkte, als würde er Jonas' Angebot ernsthaft erwägen. Gleich darauf schüttelte er jedoch den Kopf. „Das wäre nicht fair. Meine Tante hat sich sicher Mühe gegeben und groß aufgekocht." Er seufzte. „Außerdem zementiert das vermutlich nur das falsche Bild, das du von ihr und ihrer Familie hast. Das sind nette Menschen, ich steigere mich nur gerade viel zu sehr in die Sache rein."
„Wenn du das sagst ... Mein Angebot steht trotzdem. Notfalls auch, wenn wir schon da sin' und wieder wegwollen. Was glaubst du, wie schnell die uns vor die Tür setzen, wenn sie Angst haben müssen, dass sich ihnen auf den Teppich kotz?"
Endlich zeigte Erik ein schmales Lächeln. „Ich werde es im Hinterkopf behalten." Er verschwand ins Bad, machte sich aber nicht die Mühe, die Tür zu schließen. Jonas beobachtete, wie er den Kragen seines Hemds richtete, die nicht vorhandenen Falten darauf glattstrich, seine Haare öffnete und noch einmal ordentlich zu einem Knoten band.
„Herrscht heute Dresscode? So langsam fühl ich mich nämlich etwas schäbig angezogen."
Erik ließ die Hände sinken, die Reflexion seiner Augen fand Jonas'. „Du hast recht, ich übertreibe. Entschuldige." Er atmete durch. „Lass uns einfach aufbrechen, ja?"
Die U-Bahn zuckelte durch den Tunnel, aber auch meterdicke Felswände waren nicht in der Lage, die schwüle Luft zu kühlen.
„Okay, jetzt mal ganz ehrlich", sagte Jonas, nachdem er das Schweigen satt hatte. „Was hab ich von dem Abend zu erwarten? Muss ich mich auf ein Verhör gefasst machen? Oder darauf, dass sich deine Tante die Menschenmaske abreißt und versucht, mich mit ihren gigantischen Mandibeln zu zermalmen?"
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Raupe im Neonlicht
RomansaDas Abitur frisch in der Tasche, entschließt sich Jonas, das beschauliche Dorfleben gegen die flitternden Lichter der Großstadt zu tauschen. In Zukunft soll Berlins Luft seine Lungen mit Feinstaub und Freiheit füllen. Zum ersten Mal auf sich selbst...