Was zuletzt geschah:
Nicht nur Marco empfängt unerwartete Gäste. Jonas hätte mit vielem gerechnet, aber sicher nicht mit einem spontanen Besuch seines Vaters in Berlin. Und noch weniger mit dessen Entschuldigung, die so aufrichtig klingt, dass sogar Erik die gereichte Hand schüttelt. In dieser neu gefundenen Harmonie ist das Fehlen von Jonas' Mutter jedoch allzu auffällig – und schmerzhaft. Vielleicht stellt ein gemeinsames Weihnachtsfest die beste Möglichkeit dar eingerissene Brücken neu aufzubauen. Vielleicht aber auch nicht.Kapitel 51
Die Straßen waren glatt, das Schneegestöber mit jeder Minute dichter und zu allem Übel brach allmählich die Nacht herein. Erik hatte das Steuer schon vor einer Weile Jonas überlassen, der die Gegend bedeutend besser kannte und dennoch keine Sekunde unaufmerksam werden durfte, um den Wagen mitsamt Insassen sicher an seinen Zielort zu lenken. Beim Anblick des schneebedeckten Dachs des Apfelbäumchens atmete er erleichtert auf.„Es ist nett von deinen Eltern, uns die Wohnung zu überlassen."
„Wart ab, bis du sie gesehen hast. Hat schon seine Gründe, warum's die einzige Ferienwohnung in der Gegend is', die noch unvermietet war." Mit der Erfahrung vieler vorangegangener Versuche parkte Jonas den Wagen in die ausgesprochen schmale Lücke, die als inoffizieller Personalparkplatz galt. Da das Personal im Apfelbäumchen aus Jonas' Eltern und deren Nachwuchs bestand, hatte Jonas sich seine Sporen beim Thema Einparken recht früh verdienen müssen (über die Entstehung des Kratzers im Kotflügel seines Vaters bewahrte er bis heute Stillschweigen).
Erik streckte sich in seinem Sitz, bevor er ausstieg. „Solange ich mich irgendwo hinlegen und schlafen kann, bin ich zufrieden."
„Das sollte drin sein." Nach kurzer Suche fand Jonas die Schlüssel zur Hintertür in dem Plastikstein, den seine Eltern aus irgendeinem Grund für überzeugend hielten. Obwohl er wusste, dass das Apfelbäumchen wie üblich über die Weihnachtsferien geschlossen hatte, fühlte sich der Anblick der dunklen Fenster wie ein Omen an. Hastig schüttelte er den Gedanken ab und stieß die Tür auf. „So, hereinspaziert ins Warme!" Ein eisiger Hauch umwehte ihn. „Äh, ins bald Warme ... Hoffentlich haben wir Holz für den Ofen." Er nahm Erik an die Hand. „Willst du die Wirtschaft sehen, bevor ich dir die Wohnung zeig?"
„Sicher." Fügsam ließ sich Erik von Jonas durchs Erdgeschoss führen. Durch die Küche, den größeren Gastraum und den kleineren, der hauptsächlich für diverse Stammtische reserviert war. „Richtet ihr auch Feiern aus?"
„Manchmal. Beerdigungen und Geburtstage, hauptsächlich. Aber nich' so oft, jedenfalls nich', als ich noch hier gewohnt hab und das is ja nich' allzu lang her. In dem Kaff passiert ja nich' grad viel und Touristen bleiben selten lang genug, um 'ne Hochzeit zu planen."
„Es ist schön hier." Erik ließ die Hand über den Eichentisch gleiten, an dem Jonas oft nach der Schule gesessen und seine Hausaufgaben erledigt hatte. „Gemütlich. Wenn die Wohnung auch so aussieht, bin ich absolut zufrieden."
„Najaaa ... Als ‚gemütlich' geht sie vielleicht durch. Komm, wir gucken einfach mal." Die Treppenstufen zum ersten Stock knarzten und die Wohnungstür schwang nur unter missmutigem Quietschen der Scharniere auf. „TADAA!"
Jonas enthüllte den Blick auf eine Wohnung mit geräumiger Küche samt Sofaecke und separatem Schlafzimmer. Die Einrichtung war altmodisch, nein, eigentlich war sie einfach nur alt. Prilblumen, ein wuchtiger Gasherd und fadenscheinige Möbel dominierten das Bild. Selbstverständlich alles hübsch in Ocker und Oliv gehalten.
„Meine Eltern haben hier nach ihrer Hochzeit gewohnt", erzählte er. „Ich wohl auch, aber da war ich noch so jung, dass ich mich nich' wirklich dran erinnern kann. Erst als Christine sich angekündigt hat, hat mein Opa eingesehen, dass es irgendwie scheiße is', wenn er und Oma das große Haus besetzen, während 'ne bald vierköpfige Familie in 'ner winzigen Wohnung hockt. Sie haben dann getauscht, aber ich glaub, so ganz hat er das nie verkraftet. War ja doch immer sein Haus und ständig lag er meinen Eltern in den Ohren, was sie alles dran machen müssen. Dass das Gras im Garten drei Millimeter zu hoch steht, die Heizungsanlage endlich gewartet werden muss und sowas. Gleichzeitig hat er in der Wohnung hier keinen Finger gerührt. Die wurde wahrscheinlich das letzte Mal in den Siebzigern renoviert. Als Opa dann vor ein paar Jahren gestorben is', is' Oma wieder zurück zu uns ins Haus gezogen und seitdem wird die Wohnung an Gäste vermietet. Läuft aber nich' besonders gut." Jonas streckte die Hand nach Erik aus. „Komm."

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Raupe im Neonlicht
Storie d'amoreDas Abitur frisch in der Tasche, entschließt sich Jonas, das beschauliche Dorfleben gegen die flitternden Lichter der Großstadt zu tauschen. In Zukunft soll Berlins Luft seine Lungen mit Feinstaub und Freiheit füllen. Zum ersten Mal auf sich selbst...